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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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»freien Markt« gibt es gar nicht.

Was sie uns erzählen

    Die Märkte müssen frei sein. Wenn sich der Staat einmischt und diktiert, was die Marktteilnehmer dürfen und was nicht, können die Ressourcen nicht optimal fließen. Dürfen die Leute nicht tun, was für sie am einträglichsten ist, so geht der Anreiz für Investition und Innovation verloren. Wenn also der Staat die Mietpreise deckelt, hat der Vermieter keine Veranlassung mehr, seine Immobilie instand zu halten oder eine neue zu errichten. Oder wenn der Staat vorgibt, welche Finanzprodukte verkauft werden dürfen, können zwei Vertragspartner, die beide von innovativen, ihren Bedürfnissen entsprechenden Transaktionen profitiert hätten, nicht die gleichen Gewinne erzielen wie bei Vertragsfreiheit. Die Leute sollten Wahlfreiheit haben – Free to Choose , wie der Titel einer Fernsehsendung und eines Buches des Marktvisionärs Milton Friedman lautete.

Was sie uns verschweigen

    Den freien Markt gibt es nicht. Jeder Markt hat Regeln und Grenzen, die die Wahlfreiheit einschränken. Ein Markt scheint nur deshalb frei zu sein, weil wir die Beschränkungen so vorbehaltlos akzeptieren, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Es lässt sich nicht objektiv definieren, wie »frei« ein Markt ist. Das ist vielmehr eine politische Definition. Wenn die Verfechter der freien Marktwirtschaft behaupten, dass sie den Markt vor einer politisch motivierten Beeinflussung durch den Staat verteidigen, dann ist diese Behauptung falsch. Der Staat hat immer seine Finger im Spiel, und die Anhänger des freien Marktes haben politische Motive wie jeder andere auch. Wer sich von dem Mythos, dass es so etwas wie einen objektiv definierbaren »freien Markt« gibt, verabschiedet, ist auf dem besten Weg, den Kapitalismus zu begreifen.

Arbeit sollte frei sein

    Im Jahr 1819 wurde im britischen Parlament ein neues Gesetz zur Regulierung der Kinderarbeit eingebracht, der Cotton Factories Regulation Act . Der Gesetzentwurf war nach modernen Maßstäben unglaublich bescheiden. Die Beschäftigung kleiner Kinder unter neun Jahren sollte verboten werden. Ältere Kinder zwischen 10 und 16 sollten weiter arbeiten dürfen, doch die Arbeitszeit wurde auf 12 Stunden am Tag beschränkt (ja, man sorgte sich wirklich um den Nachwuchs). Die neuen Regelungen galten nur für die Arbeit in Textilfabriken, die der Gesundheit der Arbeiter besonders abträglich war.
    Der Gesetzentwurf löste eine gewaltige Kontroverse aus. Die Gegner betrachteten ihn als Angriff auf die Vertragsfreiheit und mithin als Zersetzung der Fundamente des freien Marktes. In der Diskussion um das Gesetz machten einige Mitglieder des Oberhauses geltend, dass »die Arbeit frei sein sollte«. Ihre Argumentation ging dahin, dass Kinder arbeiten wollten (und mussten) und die Fabrikbesitzer sie beschäftigen wollten – worin also bestand das Problem?
    Heute würden auch die eifrigsten Verfechter des freien Marktes in Großbritannien und anderen reichen Ländern nicht im Traum daran denken, die Kinderarbeit in das Paket der Marktliberalisierung einzubinden, das sie sich so wünschen. Als aber Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika die ersten Beschränkungen der Kinderarbeit eingeführt wurden, waren viele durchaus angesehene Menschen der Ansicht, dass die Regulierung der Kinderarbeit gegen die Prinzipien des freien Marktes verstößt.
    So betrachtet ist es mit der »Freiheit« eines Marktes wie mit der Schönheit: Sie liegt in den Augen des Betrachters. Wem das Recht von Kindern, nicht arbeiten zu müssen, wichtiger ist als das Recht der Fabrikbesitzer, die in ihren Augen profitabelsten Arbeiter einzustellen, für den wird mit dem Verbot der Kinderarbeit auch die Freiheit des Arbeitsmarktes nicht beschnitten. Wer vom Gegenteil überzeugt ist, sieht einen »unfreien« Markt, geknebelt von staatlicher Regulierungswut.
    Man muss aber nicht zwei Jahrhunderte in der Vergangenheit nach gesetzlichen Beschränkungen suchen, die wir für selbstverständlich halten, also innerhalb des freien Marktes als eine Art »Nebengeräusch« empfinden, die jedoch bei ihrer Einführung als gravierende Einschnitte in den freien Markt galten und entsprechend unter Beschuss standen. Als vor wenigen Jahrzehnten Umweltgesetze erlassen wurden (etwa Emissionsbestimmungen für Kraftfahrzeuge und Industrie), lehnten sich viele dagegen auf, weil sie angeblich unsere Wahlfreiheit einschränkten. Wenn jemand eine Dreckschleuder fahren will

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