23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
rasant (allerdings mit einer ebenfalls rasant ansteigenden Ungleichheit). Doch genau diese Länder betrieben zwar eine vorsichtige Liberalisierung, weigerten sich jedoch, konsequent eine Politik des freien Marktes zu verfolgen.
Was uns die Verfechter des freien Marktes – oder, wie man sie oft nennt, die neoliberalen Ökonomen – weismachen wollten, war demnach bestenfalls partiell wahr, schlimmstenfalls grottenfalsch. Wie ich in diesem Buch darlegen werde, basieren die von den Ideologen des freien Marktes kolportierten »Wahrheiten« auf bequemen Annahmen und bornierten Fantasien, wenn sie auch nicht immer dem Eigennutz entspringen. Mein Ziel wird es sein, wesentliche Tatsachen über den Kapitalismus darzulegen, die uns die Verfechter des freien Marktes verschweigen.
Doch dieses Buch ist kein antikapitalistisches Manifest. Wer die Ideologie des freien Marktes offenlegt, muss nicht gegen den Kapitalismus sein. Trotz seiner Probleme und Beschränkungen glaube ich, dass der Kapitalismus noch immer das beste Wirtschaftssystem ist, das der Mensch erfunden hat. Meine Kritik richtet sich gegen eine bestimmte Version des Kapitalismus, die die Welt in den letzten drei Jahrzehnten beherrscht: den Anarchokapitalismus. Das ist jedoch nicht die einzige Spielart, geschweige denn die beste, wie die Bilanz der letzten drei Jahrzehnte beweist. Dieses Buch zeigt auf, wie der Kapitalismus besser organisiert werden kann und sollte.
Obwohl wir seit der Krise 2008 ernsthaft an der Wirkungsweise unserer Volkswirtschaften zweifeln, geht kaum jemand diesen Fragen weiter nach, weil die meisten glauben, dass sich die Fachleute darum kümmern sollten. So ist es auch – in gewisser Hinsicht. Eine genaue Analyse setzt Fachwissen voraus, und die Fragen sind zum Teil so kompliziert, dass sogar die Experten uneinig sind. Daher ist es nur natürlich, dass sich die meisten von uns nicht die Zeit nehmen (und auch nicht über die notwendige Ausbildung verfügen), sich in die fachlichen Details einzuarbeiten, ehe sie sich ein Urteil über Fragestellungen bilden wie die Effektivität des amerikanischen Rettungsfonds für den Finanzsektor TARP (Troubled Asset Relief Program), die Notwendigkeit der G20-Gipfel, den Sinn einer Bankenverstaatlichung oder das angemessene Gehalt eines Spitzenmanagers. Und wenn es um Probleme geht wie die Armut in Afrika, die Mechanismen der Welthandelsorganisation oder die Regelungen zur Eigenkapitalausstattung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, streichen die meisten von uns die Segel.
Doch um die Vorgänge in der Welt zu verstehen und als, wie ich es nenne, »aktive ökonomische Bürger« von den Entscheidungsträgern die richtigen politischen Maßnahmen einzufordern, müssen wir auch gar nicht alle fachlichen Details kennen. Immerhin bilden wir uns auch über andere Fragen ein Urteil, obwohl uns das Fachwissen fehlt. Wir brauchen keine ausgebildeten Epidemiologen zu sein, um zu wissen, dass in Nahrungsmittelfabriken, Metzgereien und Restaurants ein bestimmtes Maß an Lebensmittelhygiene herrschen sollte. Mit der Wirtschaft ist das nicht anders: Wenn man erst die wichtigsten Prinzipien und die grundlegenden Fakten kennt, kann man sich, auch ohne über sämtliche fachliche Details Bescheid zu wissen, ein robustes Urteil bilden. Man muss nur dazu bereit sein, die rosarote Brille abzusetzen, die uns die neoliberalen Ideologen aufgesetzt haben. Durch diese Brille sieht die Welt einfach und hübsch aus. Aber sobald man sie abnimmt, sticht einem die harte Realität ins Auge.
Hat man erst begriffen, dass es so etwas wie einen freien Markt gar nicht gibt, lässt man sich auch nicht mehr von Leuten hinters Licht führen, die jegliche Regulierung ablehnen, weil es den Markt »unfrei« mache (siehe Nr. 1). Wer weiß, dass ein starker und aktiver Staat wirtschaftliche Dynamik nicht bremst, sondern befördert, erkennt auch das verbreitete Misstrauen gegen den Staat als unberechtigt (siehe Nr. 19 und 21). Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass wir eben nicht in einer postindustriellen Wissenswirtschaft leben, darf bezweifelt werden, dass es sinnvoll ist, den industriellen Niedergang, wie es viele Staaten tun, außer Acht zu lassen oder gar zu begrüßen (siehe Nr. 9 und 17). Ist erst einmal klar, dass der Wohlstand der Reichen nicht nach und nach in die unteren Gesellschaftsschichten hinabsickert (Trickle-down-Theorie), wird auch der Zweck starker Steuersenkungen für die Reichen offenkundig: eine einfache
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