2310 - Strukturpiloten
Schmarotzer ...
Jedenfalls spüre ich, dass die Unbekannten jenseits der Charon-Schranke sich in diesem hochgradig lebensfeindlichen Medium zurechtzufinden vermögen. Ihr Talent haben sie mutmaßlich durch sehr viel Training perfektioniert.
Denn sie manövrieren in den alles verschlingenden, alles zerfetzenden Mahlströmen – während ich bloß winzige Teilbereiche der mörderischen Dynamiken erhasche, und das auch nur, wenn ich mich ganz fest konzentriere.
Den Kopfschmerz versuchte ich anfangs zu ignorieren. Aber keine Chance.
Es fühlte sich an, als hätte mir jemand zwei Fingerbreit über dem linken Ohr einen mechanischen Vibra-Bohrer angesetzt, dessen Drehzahl sich mit jedem Atemzug erhöhte. Das drillte und schlaghämmerte sich quer durchs Gehirn, verursachte einen kaum erträglichen Druck hinter den Augen, strahlte in den ganzen Körper aus.
Die Brust wurde mir eng. Eine kalte Hand griff nach meinem Herzen, um es herauszureißen. Todesangst packte mich.
Nein: ungeheures Leid. Schwermut. Überwältigende Hilflosigkeit.
Der Widerhall maßloser, unfassbarer Pein. Das Echo eines Verlustes, des psychischen Äquivalents einer Amputation bei vollem Bewusstsein.
Mit der Desintegrator-Trennscheibe von hinten durchs Rückenmark: ein Schnitt, der die Wirbelsäule der Länge nach spaltet. Eine rotierende Klinge, die das Leibesinnerste durchpflügt, die Lungenflügel separiert, den Solarplexus zerteilt, an der Körpervorderseite austritt, eine Wunde hinterlassend, welche klafft und klafft und ...
... mich umfing erlösende Ohnmacht.
Als das Licht wieder anging, lag ich in der Medo-Sektion. Auf einem dieser Betten, die so bequem und makellos aseptisch sind, dass du schlagartig die schlimmsten Befürchtungen hegst.
*
Alle standen sie um mich herum, die gesamte Führungscrew der VERACRUZ.
Major Delazar, die Chefwissenschaftlerin, sagte: „Hallo, Marc."
„Hallo", antwortete ich stupide.
„Warum ... Was ist ...?"
„Kein Grund zur Besorgnis. Du bist umgekippt, und daraufhin haben wir den Annäherungsversuch abgebrochen."
„Aber wir müssen doch ... Wir sollten ... Aua!" Unwillkürlich tastete ich meinen Brustkorb ab; sank erleichtert zurück, nachdem meine Finger auf unversehrte Haut getroffen waren. Der Alpdruck verwehte wie die Erinnerung an einen bösen Traum.
„Alles okay?", fragte Dozent Siderip.
„Geht so", sagte ich flach. Mein Kopf brummte immer noch. „Tut mir Leid ..."
Atlan hob die linke Augenbraue vielleicht zwei Millimeter an. Das genügte, dass sich ihm aller Aufmerksamkeit zuwandte. „Konntest du neue Erkenntnisse gewinnen? Zeitweilig eine Kommunikation etablieren?"
„Nein. Die Tuchfühlung war so einseitig wie zuvor, rein passiv. Das Gegenüber hat nichts davon mitbekommen.
Unsere ›Korrespondenz‹ ist noch lange kein Briefverkehr."
Der Arkonide schmunzelte. „Hübsch ausgedrückt. – Aber warum hast du dann diesmal so stark reagiert?"
„Weiß ich nicht. Da war momentan ein Schwall überwältigender Trauer ..."
„Telepathie oder eher Empathie?"
„Nicht in Form einer ausgebildeten Psi-Fähigkeit, glaube ich. Mehr wie ein Unterton, ein Mitschwingen ... Als stecke die Person auf der anderen Seite in einer tiefen Krise. Aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet.
Ich bin sehr müde ..."
Major Delazar legte mir die Hand auf die Stirn. Pure Show, denn meine Temperatur wurde ohnedies permanent überwacht.
„Der Junge braucht Schonung. Seine Körperwerte sind zwar samt und sonders im grünen Bereich, doch das heißt nicht, dass er beliebig belastet werden darf. Er ist ein Unikum, wir verfügen über keinerlei Vergleichswerte. Niemand kann beurteilen, wie leicht oder schwer ihm die Akklimatisierung an die hiesigen Hyperphänomene fällt."
Ich rekapitulierte, was sie mir über die Charon-Wolke erzählt hatten.
Wenn ich, als blutiger Laie auf diesem Gebiet, es richtig begriffen habe, entspricht die kosmische Hintergrundstrahlung, die man aus dem Gestöber empfängt, manchmal der Strangeness eines sterbenden Universums, dann aber wieder der eines stark expandierenden. Das kann blitzschnell umschlagen; die Messergebnisse ändern sich binnen Bruchteilen von Sekunden. Mit anderen Worten: ein hyperphysikalischer Hexenkessel.
„Marc ist ungleich sensibler als jeder andere von uns", fuhr die Chefwissenschaftlerin fort. „Ich plädiere dafür, ihm eine Erholungsphase von mindestens acht Stunden zu gönnen."
„Aber bis dahin könnte es zu spät sein!",
Weitere Kostenlose Bücher