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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Saturn am Himmel bewundern kann.
    Auf Cassini Regio, der schwarzen Halbkugel, verläuft die Erhebung mitten durch einen Bereich, in dem die Menschen vor langer Zeit einmal in Hoppern und Geländewagen herumgefahren sind und den schwarzen Staub weggeblasen haben, um Muster aus freigelegtem weißem Eis zu erzeugen. Überall, wo es so leicht ist, einen Kontrast in der Landschaft herzustellen, schreiben Menschen ihre Gedanken hin, damit das ganze Universum sie lesen kann. Vor der Bildung der Saturn-Liga, als die ersten Neuankömmlinge vom Mars gekommen waren, um sich Stickstoff vom Titan zu holen und die anderen Monde ebenfalls nach möglicher Beute zu durchforsten, die sie zum roten Planeten mit zurücknehmen konnten, hatten Leute weiße Linien ins Schwarz gezogen. Man brauchte nicht mehr als ein Laubgebläse dafür, und schon bald waren weite Teile von Cassini Reggio wie der Newspaper Rock von Petroglyphen bedeckt. Da waren weiß-schwarze abstrakte Muster, Tiere, Strichmännchen, Kokopellis, Schrift aus zahlreichen verschiedenen Alphabeten, Porträts, Landschaftsformen, Bäume und andere Pflanzen; es nahm kein Ende. Später räumte man einige Bereiche ganz frei und überzog sie anschließend mehr oder weniger dick mit dem gesammelten schwarzen Staub, wodurch man Graustufen erhielt, die einen täuschenden Eindruck von Tiefe vermittelten und mal so angelegt waren, dass man den Effekt von der Erhebung aus sehen konnte, und mal so, dass man ihn nur aus dem All wahrnahm.
    Graffiti auf Iapetus! Später wurde es zu einem Fehler erklärt, zu einem Skandal, einer moralischen Dummheit, sogar zu einem Verbrechen; in jedem Fall für abscheulich. Hier und da wurde die Forderung laut, Cassini Reggio wieder komplett schwarz einzufärben. Vielleicht wird es auch eines Tages dazu kommen, aber man sollte sich nicht zu große Hoffnungen machen, denn letztlich sind wir dazu da, uns ins Universum einzuschreiben, und es ist durchaus angemessen, dass wir uns daran erinnern, wenn man uns ein leeres Blatt hinhält. Landschaftskunst erinnert uns immer wieder daran: Wir leben auf einer Tabula rasa und müssen auf ihr schreiben. Es ist unsere Welt, und ihre Schönheit existiert allein in unseren Köpfen. Selbst heute treten manchmal noch Leute über den Horizont und kratzen ihre Initialen in den Staub.

Wahram daheim
    W ahram kehrte als verstörter Androgyner zum Saturn zurück. Trotz all seiner Theorien befand er sich noch immer im Tunnel. Er versuchte, in das Pseudoiterativ seines Lebens auf Iapetus zurückzufinden, und in mancherlei Hinsicht war es tatsächlich einfach; es handelte sich nicht um ein Leben, das er jemals vergessen würde. Ein oder zwei Tage lang konnte man sich seltsam dabei vorkommen, seit Jahren zum ersten Mal wieder in einer Stadt zu sein und trotzdem gleich nach dem Aufwachen wie durch Zauberei zu wissen, wo man hinmuss – in den kleinen Gemischtwarenladen um die Ecke, wo es frisches Brot und Milch und all das gab. Doch dann fielen die Jahre dazwischen von einem ab, und man war einfach wieder zu Hause. Zu Fuß zur Arbeit, über die lange Promenade an der nördlichen Fensterwand, von der aus man sehen konnte, wie ungeheuer tief der steile Abhang am Rande der Erhebung war. Am Rande der Cassini-Region sah man schwarze Spitzen ins Weiß hineinragen: ein gewaltiges chinesisches Landschaftsgemälde, feine schwarze Pinselstriche auf weißem Papier. An der Ecke eines kleinen Platzes befanden sich die Büros des Rates in einem gedrungenen Turm mit durchsichtigen Wänden. Viele der Leute, die hier arbeiteten, waren Bekannte von ihm; es kam ihm vor, als durchlebte er erneut eine frühere Reinkarnation. Er konnte alles wieder ganz genauso machen; er konnte all seine Bewegungen nachahmen wie ein Schauspieler in einem Stück, das im vorangegangenen Jahrhundert spielt; er konnte einen täglichen Gottesdienst daraus machen und das ganz normale Leben als ein von ihm selbst heraufbeschworenes Déjà-vu leben – aber nein.
    Nein. Weil das sehr viel unnachgiebigere Pseudoiterativ des Tunnels nach wie vor seinen Kopf erfüllte und die Wahrnehmungen des jeweiligen Augenblicks überlagerte. Und da Iapetus in der Gegenwart in erster Linie eine Wiederaufführung von Iapetus war, erschien ihm die Vergangenheit, die aus der erst kürzlich von ihm durchlebten Zeit mit seiner sprunghaften Freundin bestand, sehr viel lebendiger. Er fragte sich, was sie machte. Swans Launenhaftigkeit kannte keine Grenzen, aber die Zeit im Tunnel war für sie genauso

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