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sich die schmelzenden Ruinen von Agra oder Benares ansehen, um das zu merken – es handelte sich um etwas Fraktales und Allgegenwärtiges, das sich in jedem Tal und in jedem Dorf ausdrückte: Altersschwäche, der Gestank grausamer Gesellschaftssysteme, kahle, erodierte Hänge, überflutete Küstenstreifen, die ständig weiter ins Meer absackten. Die Erde war ein zutiefst verstörender Ort. Was an ihr so seltsam war, ließ sich nicht immer erkennen oder greifen. Das menschliche Zeitempfinden wurde hier einfach aus der Bahn geworfen; alles war auseinandergeflogen, zerfiel und setzte sich neu zusammen, wodurch Gefühle ausgelöst wurden, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügten. Alle Vorstellungen von einer Ordnung wurden unter uralten Geschichten begraben, verfingen sich in einem Netzwerk von Regeln und den Gesichtern auf der Straße.
Am besten konzentrierte man sich auf das, was gerade anstand, wie immer. Und so legte Swan in etwa fünfzigtausend Metern Höhe mit einem Gleiter von einem der mittelafrikanischen Aufzüge ab und setzte auf einem Landestreifen in der Sahelzone auf. Eigentlich hätte es sich hier um die öde Wüstenlandschaft der nach Süden vordringenden Sahara handeln müssen, eine Wüste ohne das kleinste Lebenszeichen, der Sonnenseite Merkurs nicht unähnlich – nur dass dort unter ihr strahlend weiße Häuserblöcke an den Rändern seichter grüner oder himmelblauer Seen standen, riesigen Seen unter dem Schutz ihrer eigenen Wolken, die sich in dem darunterliegenden Wasser spiegelten, sodass ihre Zwillinge hoch oben in einer kopfstehenden Welt schwebten. Hinab flog sie, hinab, und es fühlte sich belebend an, obwohl sie zur Erde zurückkehrte – und dann raus aus dem Gleiter, sie stand auf einer Landebahn in der Sahara, im Wind – es war unvergleichlich köstlich, überwältigend, eine Dosis Wirklichkeit. Über ihr nichts als der dunkle, klare Himmel, der westliche Wind, der in ihren Kleidern knatterte, die nackte Sonne auf ihrem ungeschützten Gesicht. O mein Gott. Das ist Heimat. Außen auf seinem Planeten umherzulaufen und einzuatmen, sich in den Raum, den man atmet, hineinzuwerfen …
Die Stadt am Fuße des Aufzugs war schmerzhaft weiß, mit farblich abgesetzten Türen und Fenstern, einer fröhlichen mediterranen Anmutung und einer muslimischen Note durch das Gedränge, die Stadtmauer und die Minarette. Ein bisschen wie im Nordwesten Marokkos. Oasenarchitektur, klassisch und befriedigend: Denn war nicht letztlich jede Stadt eine Oase? Topologisch unterschied diese Stadt sich nicht von Terminator.
Trotzdem waren die Leute dünn und schmal, gebeugt und dunkelhäutig. Von der Sonne verschrumpelt, ein bisschen gebraten – aber es war nicht nur das. Irgendjemand musste die Erntemaschinen in den Reis- und Zuckerrohrfeldern bedienen, die Bewässerungskanäle oder Roboter warten, etwas installieren, etwas reparieren. Menschen waren nach wie vor nicht nur die billigsten Roboter, sondern bei vielen Arbeiten auch die einzig qualifizierten. Sie kamen zur Arbeit und taten ihre Schuldigkeit, eine Generation nach der anderen; wenn man ihnen täglich dreitausend Kalorien und ein paar Annehmlichkeiten bot, ein bisschen Freizeit und eine ordentliche Portion Existenzangst, dann konnte man sie für praktisch alles einsetzen. Und wenn man ihnen Drogen gab, die es ihnen erleichterten, ihr Los zu tragen, bekam man eine Arbeiterklasse, die so verdinglicht war wie die Rädchen im Getriebe. Einmal mehr hatte sie es vor Augen: Eine große Minderheit der Erdbevölkerung verrichtete nach wie vor Roboterarbeit, ganz egal, ob in den politischen Theorien anderes behauptet wurde. Von den elf Milliarden Erdenmenschen fürchteten mindestens drei Milliarden Obdachlosigkeit und Hunger – trotz all der billigen Energie, die aus dem All zu ihnen herabfloss, trotz der Farmwelten, die einen Großteil ihrer Nahrungsmittel zur Erde schickten. Nein – draußen im Weltraum zimmerten sie neue Welten zusammen, während die Menschen auf der alten Erde nach wie vor Not litten. Es war jedes Mal wieder ein Schock, das zu sehen. Man hat nicht besonders viel Spaß am Spielen, wenn man weiß, dass gleichzeitig irgendwo Menschen verhungern. Aber wir bauen dort oben Nahrung für euch an, kann man zu seiner Verteidigung ausrufen, doch die Worte ändern nichts. Aus irgendwelchen Gründen kommen die Nahrungsmittel niemals an. Es gibt immer mehr Menschen, als das System versorgen kann. Es gibt also keine Antwort. Und es ist schwer, sich auf
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