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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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sodass alles andere völlig in den Hintergrund trat. Wahrscheinlich wäre keiner dieser Menschen je auf den Gedanken gekommen, einen Hass auf Raumer zu entwickeln: Angelegenheiten außerhalb von China lagen im Reich der Hungrigen Geister. Selbst das Leben außerhalb der eigenen Arbeitseinheit war geisterhaft. Den Eindruck gewann Swan zumindest, während sie in Absteigen saß, Nudeln schlürfte und mit erschöpften Männern plauderte, die deshalb einen Moment für sie erübrigten, weil eine große, Fragen stellende Raumerin etwas Ungewöhnliches war. Außerdem schienen die Leute in Nudelbars toleranter zu sein. Auf der Straße fing sie sich einige böse Blicke ein, und einmal rief man ihr auch Beleidigungen nach. Das letzte Stück Weg zu Mqarets Kollegen legte sie beinahe laufend zurück. Sobald sie dort war, ließ sie sich ein paar Ampullen Blut abnehmen und unterzog sich einigen Seh- und Gleichgewichtstests.
    Als sie wieder draußen auf der Straße war, hatte sie den Eindruck, dass viele Augenpaare sich mindestens ebenso sehr für sie interessierten wie gerade eben noch Mqarets Ärztekollegen. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie langsam Angst bekam. Sie beschleunigte ihren Schritt durch die unausweichlichen Menschenmassen – in China waren immer und überall mindestens fünfhundert Personen auf einmal in Sichtweite. Zurück in ihrem Gästehaus konnte sie sich über ihre Angst vor der Menge nur wundern. Aber nachdem sie eingeschlafen war und wieder aufwachte, fand sie sich tatsächlich gefesselt in einem Zimmer wieder, das nur von medizinischen Monitoren erhellt war. Das Bett kümmerte sich um ihre körperlichen Bedürfnisse, und sie vermutete, dass man ihr über ihren Infusionsschlauch eine Droge verabreichte, die ihr Sprachzentrum anregte, denn sie redete die ganze Zeit, ohne es zu wollen. Eine körperlose Stimme hinter ihrem Kopf stellte ihr Fragen über Alex und alles andere, und sie plapperte alles aus, ohne etwas dagegen machen zu können. Pauline half ihr kein bisschen – anscheinend hatte man sie abgeschaltet. Swan konnte den Drang zu reden einfach nicht unterdrücken. Eigentlich fühlte sie sich fast wie sonst auch; tatsächlich war es in gewisser Weise eine Erleichterung, einfach ohne Punkt und Komma reden zu dürfen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Jemand zwang sie dazu, also tat sie es.
    Später kam sie im selben Bett wieder zu sich, diesmal nicht gefesselt. Ihre Kleider lagen auf einem Stuhl am Bett. Das Zimmer war kaum größer als das Bett. Ja, es war immer noch das gleiche Gästehauszimmer. Die KI am Einlass, ein grünes Gehäuse auf einem Tresen, erklärte, dass sie nichts Verdächtiges bemerkt hätte. Laut Zimmermonitor war mit ihren Lebenszeichen alles in bester Ordnung gewesen, niemand war in ihr Zimmer eingedrungen, nichts Ungewöhnliches war vorgefallen. Swan wandte sich an Pauline, die ihr auch nicht helfen konnte. Es war fast genau vierundzwanzig Stunden her, dass sie die Klinik von Mqarets Freunden verlassen hatte. Sie rief beim Merkur-Haus in Manhattan an und teilte den Leuten dort mit, was passiert war. Dann meldete sie sich bei Zasha.
    Alle waren schockiert, besorgt, voller Mitgefühl, und drängten sie, sich sofort zum nächsten Merkur-Haus zu begeben und sich ärztlich versorgen zu lassen; aber letztlich sagte Zasha streng: »Du warst allein auf der Erde unterwegs. Ich habe dir gesagt, dass einem hier alle möglichen üblen Sachen zustoßen können. Es ist nicht mehr so wie früher, als du deine ersten Sabbatjahre genommen hast. Wir reisen hier normalerweise nur noch im Rudel. Du hast doch gesehen, was das letzte Mal passiert ist, als du bei mir zu Hause alleine losgegangen bist.«
    »Aber das waren nur ein paar Kinder. Wer war es diesmal?«
    »Ich weiß es nicht. Ruf sofort Jean Genette an. Interplan ist möglicherweise dazu in der Lage herauszufinden, wer dahintersteckt. Vielleicht können wir dann auch erahnen, was als Nächstes passiert. Wahrscheinlich haben sie einfach ein Schleppnetz durch dein Gehirn gezogen. In dem Fall wird das wahrscheinlich nicht wieder vorkommen, aber du solltest ab jetzt nur noch mit mehreren Begleitern unterwegs sein, vielleicht sogar mit einem Sicherheitsteam.«
    »Nein.«
    Zasha ließ sie eine Weile dem Nachhall ihrer Antwort lauschen.
    Schließlich sagte Swan: »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Ich weiß nicht. Es kommt mir vor, als hätte ich einfach nur schlecht geträumt. Ich bin ein bisschen hungrig, aber ich glaube,

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