Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
Vom Netzwerk:
liegende Land schwärzer aussah als dunkle Materie. Splitter von Schwarz und Weiß – ihr Auge war kaum dazu in der Lage, sie zu einer Landschaft zusammenzufügen. Genau so liebte sie es zuweilen. Ihr schizophrener Lebensraum.
    Sie wurde zum Sonnenläufer, im Kopf die auswendig gelernten Karten. Während sie fast blind Richtung Westen stapfte, wusste sie also, dass sie bald über die Anhöhe nördlich von Mahler kommen und einige verlassene und von der Sonne gebrannte Ballard’sche Landebahnen passieren würde. Anschließend würde sie das obere Ende einer Abbruchkante erreichen, einen kleinen, vorstehenden Riss in der Landschaft, sehr alt, von dem aus man zweihundert Meter weit nach unten auf die Ebene schauen konnte. Glücklicherweise gab es in dem Steilhang eine Reihe schräger Simse, die als Treppe fungierten. Sie war nicht zum ersten Mal hier. Dieser Steig wurde oft von Sonnenläufern verwendet, die hier entlangkamen, und war bereits seit Jahren von Staub und Geröll befreit. Es handelte sich um einen rissigen Weg aus sauberen Steinrampen, der sie im Zickzack zu der tiefer liegenden Ebene hinabführte. Sie fand, dass der Horizont sich auf dem Merkur in genau der richtigen Entfernung befand: Man konnte nicht einfach die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren, aber man konnte zu ihm hingehen, um ihn sich näher anzusehen.
    Jetzt gerade befand sich dort draußen eine Gruppe Sonnenläufer, die geduldig Richtung Westen stapfte. Kleine silberfarbene Gestalten, die sie an Inspektor Genette erinnerten und die soeben hinter dem Horizont verschwanden. Sie würden ein Weilchen wandern und sich dann in Karren oder auf Bahren legen, um zu schlafen, während die anderen sie weiterzogen. Zusammen wandern, die Schlafenden mitziehen – was für ein schönes Gefühl von Vertrauen und Fürsorge, wenn man sein Leben auf solch spielerische Art in die Hände von Fremden legte. Auch das machte es aus, ein Merkurianer zu sein. Lange Zeit hatte sie sonst keine Gesellschaft gebraucht, mit Ausnahme ihrer Stadt.
    Sie erreichte den Fuß des Steilhangs und betrat die flache Geröllebene des Tricrena-Albedo. Hier verlor sich der Pfad, weil alle Wege gleich gut waren. Hier konnte sie in die Nacht hineinlaufen, vor der Dämmerung Boden gewinnen, sich auf den Yes Tor stellen und zusehen, wie die höchsten Punkte der Ebene wie Kerzen aufflackerten und von ihren leuchtenden Spitzen abwärts herunterbrannten. Auf ewig in der Morgendämmerung laufen, wie sehr es einem danach verlangen konnte! Wer mochte schon den Mittag oder die Abenddämmerung? Das Morgengrauen hinter sich lassen, in die Nacht zurückzulaufen. Den Tag aufschieben – wer wusste schon, was er bringen würde? Sie folgte keinem Plan, keiner Idee.
    Eine ganze Weile rannte sie und dachte über nicht viel mehr nach als den Stein unter ihren Füßen und die Beschaffenheit des Geländes. Sonst brauchte sie nichts. Sie konnten dem Merkur die Eingeweide herausreißen, jedes wertvolle Mineral aus ihm herausholen, seine Oberfläche würde dadurch kein bisschen anders aussehen. Dieser Planet war bereits ein Backstein. Das schwer mitgenommene Gesicht eines alten Freundes. Überall waren Felsbrocken verteilt, Geröll, Müll, Auswurf. Die Staubdecke. Gold in den Bergen dort. Aber Freunde reden miteinander. Ich will mit jemandem reden können, und zwar so, dass es mir etwas bedeutet. Ich will Dinge hören, die mich interessieren, die mich überraschen, ganz egal, wie unmöglich es ist, mich zu überraschen. Nur dass es in Wahrheit ganz einfach ist, mich zu überraschen. Wie konnte es sein, dass niemand da war, um jemanden zu überraschen, der sich so leicht überraschen ließ?
    Eine behäbige Person, eine saturnianische Person. Was, wenn es jemanden gab, auf den man sich verlassen konnte, jemanden, der ordentlich war, zuverlässig, vorhersehbar, bestimmt; entschieden, wenn er etwas hinreichend durchdacht hatte; großmütig; gütig. Jemand, der phlegmatisch war und dennoch zu kleinen Ausbrüchen der Begeisterung neigte, bei denen es meistens um ästhetische Freuden der einen oder anderen Art ging. Glücklich in der Gefahr, ein wenig trunken. Jemand, der eine Landschaft lieben konnte. Jemand, der gerne Tiere beobachtete und ihnen nachjagte, nur um einen Blick zu erhaschen. Jemand, der sie ansah, als wäre es ein interessantes Projekt, sie zu verstehen, und nicht nur ein zu lösendes Problem oder ein Stück Kulisse in einem wichtigeren Stück. Und der jeden, den er traf, mit derselben Aufmerksamkeit

Weitere Kostenlose Bücher