Geisterlicht: Roman (German Edition)
Erstes Kapitel
Sie stand in der offenen Tür zu einem großen Raum, an dessen Wänden in deckenhohen Regalen Tausende von Büchern aufgereiht waren. In einer Ecke befand sich eine Sitzgarnitur bestehend aus ein paar schweren Ledersesseln und einem wuchtigen, niedrigen Tisch. Vor dem großen Fenster, hinter dem die Nacht dunkelblau schimmerte, hatte ein großer Schreibtisch aus Eichenholz seinen Platz.
Durch das alte Gemäuer strich ein kühler Lufthauch, und sie fröstelte in ihrem dünnen Nachthemd. Der schwarz-weiße Fliesenboden unter ihren nackten Füßen war eiskalt. Dennoch rührte sie sich nicht von der Stelle, sondern schaute ihn unverwandt an.
Das Licht der Tischlampe malte bläuliche Schatten in das dunkle Haar des Mannes am Schreibtisch, als er sich tiefer über das Buch beugte, das vor ihm lag. Die Bewegung, mit der er die Seiten umblätterte, war ihr so vertraut wie eine zärtliche Geste, und ihr Herz begann, heftig zu klopfen. Sie bewegte ihre Lippen, wollte seinen Namen flüstern, doch sie wusste nicht, wie er hieß.
Als hätte er ihren Blick gespürt, hob er plötzlich den Kopf, wandte sich um, strich sich das schwarze Haar aus der Stirn und sah ihr direkt ins Gesicht. Seine Augen waren von einem tiefen, geheimnisvollen Blau. Sie erinnerten sie an einen Waldsee, in den an einem milden Herbstnachmittag das Sonnenlicht goldene Tupfen malt.
Fiona schnappte nach Luft, als er die Lippen zu einem Lächeln verzog und sich in seiner rechten Wange ein Grübchen bildete. Zögernd machte sie einen Schritt auf ihn zu. Er streckte ihr lächelnd die Hand entgegen …
Das Schrillen des Telefons riss sie aus dem Schlaf, und als das Bild des vertrauten und gleichzeitig fremden Mannes vor ihrem geistigen Auge verschwand, war sie unendlich traurig, so, als hätte das Schicksal einen Geliebten aus ihren Armen gerissen. Sie blinzelte in das erste Licht des Morgens und griff nach dem Telefon neben ihrem Bett.
»Ich habe schon wieder von ihm geträumt«, sprudelte sie hervor, nachdem sie mit einem Druck auf die kleine grüne Taste das Gespräch entgegengenommen hatte. »Es ist immer wieder derselbe Mann. Die schwarzen Haare, die blauen Augen … Dieses Mal hat er gelächelt, und ich konnte sehen, dass er …«
»Fiona?«, fragte eine unbekannte Frauenstimme am anderen Ende der Leitung zaghaft.
»Wer spricht denn da?« Mit zusammengekniffenen Augen starrte Fiona hinauf zur Decke. Wer außer ihrer Freundin Anja rief sie je so früh am Morgen an?
Schweigen. Dann ein Räuspern und schließlich ein Flüstern. »Hier ist … deine Schwester.« Die Stimme klang sanft und hatte einen leichten Akzent.
Fiona fuhr so hastig von ihrem Kissen hoch, dass ihr für einen Moment schwarz vor den Augen wurde. »Dawn?«, flüsterte sie, nachdem sie mühsam den Kloß in ihrer Kehle hinuntergeschluckt hatte.
»Ja. Hier ist Dawn.«
Wieder war es still in der Leitung. So still, dass in Fionas Ohren ihr eigener Atem wie ein Sturm klang. Sie öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder. Was sagte man zu einer Schwester, die man seit dreiundzwanzig Jahren nicht gesehen und gehört hatte?
»Ich brauche dich hier in Schottland, Fiona.« Das klang jetzt entschlossen und gar nicht mehr zaghaft. »Du bist die Einzige, die uns helfen kann.«
»Wie … Wie geht es unserer Mutter?«, erkundigte Fiona sich nach einer weiteren langen Pause. Sie nahm automatisch an, dass ihre Schwester mit »uns« sich selbst und die gemeinsame Mutter meinte.
»Sie ist vor drei Monaten gestorben. Es kam ganz plötzlich. Ein schwaches Herz.«
»Oh. Das ist natürlich… schlimm.« Beschämt stellte Fiona fest, dass sie in Wirklichkeit keinerlei Gefühlsregung verspürte. Betrauerte man nicht eigentlich den Tod der eigenen Mutter? Und das war Noreen Kramer, geborene Abercrombie, schließlich und endlich gewesen: ihre Mutter. Auch wenn sie sich vor dreiundzwanzig Jahren von Fionas Vater getrennt hatte und mit ihrer jüngeren Tochter Dawn in ihre Heimat Schottland zurückgekehrt war. Die damals vierjährige Fiona hatte sie bei ihrem Vater in Deutschland zurückgelassen.
»Sie hat sich nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet«, brach es jetzt aus Fiona hervor. »Kein Brief, kein Anruf, nichts! Als würde ich für sie nicht mehr existieren. Als hätte sie ihre älteste Tochter einfach aus ihrem Gedächtnis gestrichen!«
»Aber nein!«, rief Dawn entsetzt. »So war das nicht. Sie hat mir immer wieder erzählt, wie oft sie unserem Vater geschrieben hat. Aber alle
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