Im Schatten meiner Schwester. Roman
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E s gab Tage, da liebte Molly Snow ihre Schwester, doch der heutige gehörte nicht dazu. Sie war in der Dämmerung aufgestanden, um Robins Wasserträgerin zu sein, nur um dann zu erfahren, dass Robin ihre Meinung geändert und beschlossen hatte, ihre Langstrecke am späten Nachmittag zu laufen, und dass sie selbstverständlich erwartete, dass Molly sich nach ihr richtete.
Und warum auch nicht? Robin war eine Weltklasseläuferin – eine Marathonläuferin mit Dutzenden von Siegen an ihrem Gürtel, unglaublichen Statistiken und einer ernsthaften Chance, es zu den Olympischen Spielen zu schaffen. Sie war daran gewöhnt, dass die Menschen ihre Pläne änderten, um sie ihren anzupassen. Sie war der Star.
Molly hasste das zum millionsten Mal, und obwohl Robin ihr vom Schlafzimmer ins Bad und wieder zurück folgte, weigerte sie sich nachzugeben. Robin hätte locker heute Morgen laufen können; sie wollte einfach nur mit einer Freundin frühstücken. Als ob Molly das nicht selbst auch gerne täte! Doch das konnte sie nicht, da ihr Tag angefüllt war. Sie musste um sieben in Snow Hill sein, um das Gewächshaus zu versorgen, bevor die Kunden kamen, musste einkaufen, den Bestand und die Verkäufe überprüfen und für die Weihnachtszeit vorbestellen; und zusätzlich zu ihren eigenen Aufgaben musste sie auch noch für ihre Eltern einspringen, die auf Reisen waren. Das bedeutete, dass sie sich um alle Fragen kümmern musste, die auftauchten, und schlimmer noch, eine Geschäftsführungssitzung leiten musste – nicht gerade das, was Molly unter Spaß verstand.
Ihre Mutter wäre nicht darüber erfreut, dass sie Robin im Stich gelassen hatte, doch Molly fühlte sich zu überlastet, als dass es sie scherte.
Die gute Nachricht war, dass sie, wenn Robin am späten Nachmittag liefe, draußen wäre, wenn Molly nach Hause kam. Während die Sonne durch das offene Fenster schien und ihr Gesicht bräunte, schmolz Molly dahin, als sie von Snow Hill zurückfuhr. Sie holte die Post aus dem Kasten an der Straße, ohne sich zu fragen, warum ihre Schwester das niemals tat, und bog knirschend in die Auffahrt ein. Die Rosen waren von einem sanften Pfirsichrot, und ihr Duft war umso kostbarer, als ihnen nur eine kurze Lebenszeit beschieden war. Dahinter standen die Hortensien, die sie gepflanzt hatte und die durch einen Hauch von Aluminium, etwas darüber gestreuten Kaffeesatz und viel TLC wunderbar blau geworden waren.
Molly parkte unter der Pinie, die das Cottage beschattete, in dem sie und Robin seit zwei Jahren zur Miete wohnten, aber das sie bald verlieren würden, öffnete den Kofferraum des Jeeps und begann abzuladen. Sie war fast am Haus und jonglierte gerade mit einem herabhängenden doppelblättrigen Philodendron, einem Korb voller Kürbisse und einem Katzenkorb, als ihr Handy klingelte.
Sie konnte es schon hören.
Es tut mir leid, dass ich heute Morgen geschrien habe, Molly, aber wo bist du jetzt? Mein Auto will nicht anspringen, und ich bin mitten im Nirgendwo und völlig kaputt.
Molly verteilte ihre Lasten, um einen Schlüssel zur Hand zu haben, als es erneut klingelte. Ein drittes Läuten ertönte, als sie sich hinkniete, um die Sachen gleich hinter der Tür abzuladen. In dem Moment setzte das Schuldgefühl ein. Sekunden bevor die Mailbox ansprang, zog sie das Handy aus ihrer Jeans und klappte es auf.
»Wo bist du?«, fragte sie, doch die Stimme am anderen Ende gehörte nicht Robin.
»Ist da Molly?«
»Ja.«
»Ich bin Oberschwester im Dickenson-May Memorial. Es hat einen Unfall gegeben. Ihre Schwester befindet sich in der Notaufnahme. Wir möchten gerne, dass Sie kommen.«
»Ein Autounfall?«, fragte Molly erschrocken.
»Ein Laufunfall.«
Molly ließ den Kopf hängen. Noch einer. O Robin, dachte sie und spähte in den Tragekorb, besorgter um die kleine bernsteinfarbene Katze, die dort drinnen kauerte, als um ihre Schwester. Robin war eine chronische Draufgängerin. Sie behauptete immer, die Belohnung sei es wert, aber was war mit dem Preis? Ein gebrochener Arm, eine ausgerenkte Schulter, verstauchte Knöchel, Fußsohlenschmerz, ein Neurom – es gab nichts, was sie noch nicht gehabt hatte. Dagegen war diese kleine Katze ein unschuldiges Opfer.
»Was ist passiert?«, fragte Molly zerstreut und gab leise Geräusche von sich, um die Katze herauszulocken.
»Das wird der Arzt Ihnen erklären. Wohnen Sie weit weg?«
Nein, nicht weit. Doch die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sie nur auf die Ergebnisse des
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