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wie es läuft.«
»Wie kannst du dir so viel davon merken?«
»Ich habe lange Zeit nichts anderes gehört.«
»Das ist verrückt. Na schön, dann versuch’s mal mit der Vierten. Du kannst sie einfach der Reihe nach machen.«
»Später bitte. Ich muss mich ausruhen. Meine Lippen sind schon völlig kaputt, sie fühlen sich doppelt so dick an. Im Moment sind sie wie dicke alte Dichtungsringe.«
Lachend ließ sie von ihm ab. Doch eine Stunde später brachte sie das Thema erneut auf und klang dabei, als würde sie zutiefst enttäuscht sein, wenn er ablehnte.
»Na schön, aber du musst mitmachen«, sagte er.
»Aber ich kenne die Melodien nicht. Ich erinnere mich einfach nicht an Sachen, die ich gehört habe.«
»Darauf kommt es nicht an«, erwiderte Wahram. »Pfeif einfach. Du hast gesagt, du würdest pfeifen.«
»Das mache ich auch, aber es klingt so.«
Sie pfiff ein bisschen: ein prächtiger musikalischer Wirbel, genau wie von einem Singvogel.
»Wow, du klingst ja wie ein Vogel«, sagte er. »Sehr gleitende Glissandi, und ich-weiß-nicht-was, aber genau wie ein Vogel.«
»Ja, stimmt. Ich habe ein paar Lerchen-Polypen in mir drin.«
»Du meinst … im Gehirn? Vogelgehirne, in deinem eigenen?«
»Ja. Alauda arvensis. Und auch ein bisschen Sylvia borin , die Gartengrasmücke. Aber wusstest du, dass Vogelgehirne völlig anders organisiert sind als Säugetiergehirne?«
»Nein.«
»Ich dachte, alle wüssten das. Ein Teil der Qube-Architektur basiert auf Vogelgehirnen, deshalb war das für eine Weile im Gespräch.«
»Ich wusste es nicht.«
»Tja, wir Säugetiere denken in Zellschichten, die über unserem Cortex verteilt sind, während Vögel in Zellhaufen denken, die wie Trauben angeordnet sind.«
»Das wusste ich auch nicht.«
»Man kann also seine eigenen Stammzellen nehmen und die DNA von Lerchengesangs-Hirnzentren einsetzen, und dann kann man sie durch die Nase ins Gehirn einführen, wo sie einen kleinen Zellhaufen im limbischen System bilden. Wenn man dann pfeift, verbindet dieser Haufen sich mit dem bereits bestehenden musikalischen Netzwerk. Das sind alles sehr alte Teile. Die sind ohnehin schon fast wie Vogel-Gehirnteile. Die neuen Bereiche werden also eingestöpselt, und los geht’s.«
»Das hast du gemacht?«
»Ja.«
»Wie hat es sich angefühlt?«
Zur Antwort pfiff sie. Ein weiches Glissando ging ins nächste über: helles Vogelgezwitscher, hier bei ihnen im Tunnel.
»Erstaunlich«, sagte Wahram, »ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist. Eigentlich solltest du hier pfeifen und nicht ich.«
»Es stört dich nicht?«
»Im Gegenteil.«
Also pfiff sie, während sie weitergingen, und zwar manchmal die ganze Stunde zwischen ihren Pausen. Ihr fröhliches Gezwitscher wechselte zwischen allerlei Phasen und Phrasen, die Wahram so vielfältig vorkamen, dass es sich um den Gesang von mehr als zwei Vogelarten handeln musste. Aber er war sich nicht sicher, und ihm kam der Gedanke, dass sie durch ihren Körper stimmlich ebenso eingeschränkt war wie jeder Vogel auch. Vielleicht handelte es sich also bloß um Varianten der Lieder, die ein echter Singvogel sang. Prachtvolle Musik! Manchmal klang sie ein bisschen nach Debussy, und natürlich waren da auch Messiaens explizite Vogelimitationen. Doch Swans Pfeifen war ausgefallener, wiederholte sich stärker, mit unzähligen Variationen der Motive. Oft wiederholte sie eindringliche Ostinato-Triller, die ihn manchmal nicht mehr losließen und geradezu verrückt machten.
Nachdem sie aufgehört hatte, konnte er sich immer noch einige ihrer Melodien in Erinnerung rufen. Wale hatten natürlich auch Lieder, aber mit Sicherheit waren Vögel die ersten Musiker gewesen. Es sei denn, die Dinosaurier hatten auch schon musiziert. Er meinte sich zu erinnern, dass Hadrosaurier-Schädel tiefe Höhlungen hatten, die nur dem Zweck dienen konnten, Laute zu erzeugen. Es war interessant, sich vorzustellen, was für Geräusche sie wohl von sich gegeben haben mochten. Er summte sogar ein wenig, um auszuprobieren, wie es sich in seiner eigenen tiefen, fassförmigen Brust anfühlte.
»War das jetzt der Vogel oder du?«, fragte er, als sie eine Pause einlegte.
»Wir sind ein und dieselbe«, antwortete sie.
Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Mozarts Star in einem Käfig hat einmal eine Phrase abgewandelt, die Mozart geschrieben hat. Der Vogel hat sie gesungen, nachdem Mozart sie auf dem Klavier gespielt hatte, aber dabei alle Kreuze in Bs umgewandelt. Mozart hat das am
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