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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Fahrstuhlschächte lag die Oberfläche des Merkur in der vollen Sonne. Die Stellen, die direkt vom Licht getroffen wurden, wurden bis zu 700 Kelvin heiß; da es keine Luft gab, gab es auch keine Lufttemperatur. Inzwischen befanden sie sich unterhalb des Tolstoi-Kraters; Pauline war für die Navigation zuständig und musste sich allein auf ihre Berechnungen verlassen; hier unten bekam ihre kleine Funkeinheit keinen Kontakt. Keines der Telefone in den Stationen funktionierte. Swan vermutete, dass sie nur mit den Aufzügen verbunden waren – oder das gesamte System war bei dem Einschlag zerstört worden, und wegen der fortbestehenden Krisensituation der Einwohnerschaft Terminators und aufgrund des Umstands, dass der eingestürzte Teil des Tunnels nun der Sonne ausgesetzt war, stand niemand zur Verfügung, um es zu reparieren.
    Stunde um Stunde gingen sie. Die Tage verschwammen zunehmend ineinander, zumal man sich ja bei Bedarf auf Pauline verlassen konnte. Das Pseudoiterativ war noch nie weniger pseudo gewesen. Das hier war das wahre Iterativ. Swan ging vor Wahram und ließ dabei die Schultern hängen, als wollte sie pantomimisch Niedergeschlagenheit darstellen. Die Minuten zogen sich hin, bis ihnen jede einzelne wie zehn vorkam; es war eine exponentielle Ausdehnung der Zeit, eine dickflüssige Verzögerung. Sie würden also zehnmal so lange leben. Er suchte nach etwas, das er sagen konnte, ohne Swan damit zu verärgern. Sie sprach gerade knurrend mit Pauline.
    »Als Kind habe ich immer gepfiffen«, sagte er und versuchte es mit einem einzigen Ton. Seine Lippen fühlten sich dicker an als in seinen Kindertagen. Ach ja – die Zunge dichter an den Gaumen. Sehr schön. »Ich habe immer die Melodien der Symphonien, die ich mochte, gepfiffen.«
    »Dann pfeife«, sagte Swan. »Ich pfeife auch.«
    »Tatsächlich!«, sagte er.
    »Ja. Habe ich dir doch erzählt. Aber du zuerst. Kannst du etwas von Beethoven, etwas, das wir auf dem Konzert gehört haben?«
    »Ja, ein bisschen. Nur ein paar Melodien.«
    »Dann mach das.«
    In Wahrams Jugend hatte es eine Phase gegeben, in der jeder Morgen mit Beethovens Eroica hatte beginnen müssen, der Dritten Symphonie, mit der Beethoven seinen Durchbruch gehabt hatte und die ein neues musikalisches Zeitalter und tatsächlich sogar ein neues Zeitalter des menschlichen Geistes eingeläutet hatte. Beethoven hatte sie geschrieben, nachdem er erfahren hatte, dass er taub werden würde. Wahram pfiff also die unwiderstehlichen ersten beiden Noten des ersten Satzes und dann den Hauptteil in einem Tempo, das zu seinem Schritttempo passte. Das war irgendwie gar nicht so schwer. Während er vor sich hin pfiff, war er sich nie sicher, ob ihm die nächste Passage noch einfallen würde, doch immer, wenn er an den Punkt kam, an dem die Melodie sich veränderte, folgte eines unvermeidlich aus dem anderen und entströmte ihm in recht zufriedenstellender Weise. Irgendwo in ihm drin wurden diese Dinge bewahrt. Die Reihe langer, komplexer Melodien folgte in stetem Fluss der zwingenden Logik von Beethovens Geist. Und es war eine dichte, unausweichliche Abfolge aufwühlender Stücke. Die meisten Passagen erforderten eigentlich Kontrapunkte und vielstimmige Harmonien, und Wahram sprang von einer Instrumentalgruppe zur nächsten, je nachdem, welche in seinen Ohren gerade die Hauptmelodie zu spielen schien. Trotzdem wurde die Großartigkeit von Beethovens Musik selbst in diesen ungeübt gepfiffenen Einzeltönen hier in diesem Tunnel greifbar. Es schien, als ob die drei Sonnenläufer sich ihnen wieder näherten, um besser zu hören. Nach dem ersten Satz stellte Wahram fest, dass die anderen drei Sätze ihm ebenso vollständig wie der erste wieder einfielen, und als er fertig war, waren vierzig Minuten vergangen, genau so viel Zeit, wie ein Orchester gebraucht hätte, um die Symphonie vollständig zu spielen. Die großen Variationen des Finales waren so aufrüttelnd, dass er bei seiner Darbietung beinahe zu hyperventilieren begann.
    »Wundervoll«, sagte Swan, als er fertig war. »Wirklich gut. Was für Melodien. Mein Gott. Mehr davon. Kannst du noch mehr?«
    Wahram musste lachten. Er überlegte. »Tja, ich könnte wohl die Vierte, Fünfte, Sechste, Siebente und Neunte. Und ein paar Stücke aus den Quartetten und Sonaten vielleicht. Aber ich fürchte, bei vielen davon würde ich den Faden verlieren. Bei den späten Quartetten vielleicht nicht. Zu deren süßen Melodien habe ich gelebt. Ich müsste mal ausprobieren,

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