235 - Auf dem sechsten Kontinent
wollten vom Rest der Welt nichts mehr wissen. Selbst die ersten – überraschenden – Begegnungen mit Menschen, deren Schiffe aus anderen eisfreien Bereichen der Antarktis zu ihnen vorstießen, hatten daran nichts geändert.
Die Schelfländer schlossen Handelsverträge ab, doch sie reduzierten die Kontakte mit den Innenländern auf ein Minimum. Sie tauschten Nahrungsmittel gegen dringend benötigte Erze und Rohöle, die durch die teilweise Abschmelzung der Antarktis leichter förderbar geworden waren, um die geringen maschinellen Tätigkeiten auf den Inseln am Laufen zu halten. Die Handelsstadt Lanschie, in einer Bucht und in einiger Entfernung zum tatsächlichen Kernbereich der Innenländer gelegen, diente zum Warenaustausch; der Dentrillenwald am Nordriff hielt Barbaren davon ab, ins Schelfland vorzudringen.
Nanette war müde geworden. Vielleicht sollte sie die letzten Sonnenstrahlen des Tages für ein kleines Schläfchen nutzen.
Ein breiter Schatten legte sich über Nanette. Sie legte eine Hand an die Stirn und blinzelte kurzsichtig. »Wer ist da?«, fragte sie.
»Ich bin es«, antwortete eine unverkennbare Stimme.
»Der Franke. Mein letzter verbliebener Wegbegleiter.«
»Ich verstehe nicht…«
»Macht nichts, mein Großer. Ich habe gerade in Erinnerungen geschwelgt. So, wie es uns alten Leuten zusteht.«
»Du bist nicht alt«, brachte der Franke gebrochen hervor. »Für mich bist du noch immer dieselbe wie vor all den Jahren.«
»So, so.« Nanette lachte, und sie musste husten. Irgendetwas steckte in ihrer Lunge, das sie beengte und manchmal Blut spucken ließ. Da war eine Ärztin gewesen, damals im Domland… sie hätte helfen können. Doch sie war längst gestorben, zerrieben vom anstrengenden Leben auf einem winzigen Felsblock, dem sie gemeinsam mit ihrem Mann ein paar Hektar fruchtbaren Landes abgerungen hatte.
Und wenn er es nicht mehr aushielt auf seiner Steininsel, erinnerte sich Nanette, kam er zu mir gekrochen. Ich gab ihm, wonach es ihm begehrte. Er wollte mich. Weil ich hübsch war, keine Schwielen an den Handflächen hatte, weil mein Gesicht nicht vom ständig wehenden Wind gerötet und rau war.
»Beug dich zu mir herab«, forderte Nanette den Franken auf.
Er gehorchte. Sie roch dieses Odeur, das sie an Sumpfgras und Verwesung erinnerte und das der Franke nicht loswurde, so viel und so oft er sich auch wusch.
»Wieso alterst du nicht?«, fragte sie den Franken. »Du siehst genauso aus wie an jenem Tag, als du aus der Eiswüste kamst.« Mühsam unterdrückte sie Wallungen aus Neid und Sehnsucht. Sie durfte dem großen Kerl gegenüber keine Schwäche zeigen, niemals!
»Ich weiß es nicht.« Er drehte den Kopf von links nach rechts. »Ich weiß es einfach nicht«, wiederholte er gequält.
»Bereust du es etwa? Deine Kräfte lassen niemals nach. Jedermann achtet und fürchtet dich, dein Körper funktioniert wie eine Maschine.«
»Ich möchte so gerne ein normaler Mensch sein!«
Was für eine seltsame Antwort, was für ein gequälter Aufschrei! »Gefällt dir Nimue?«, wechselte Nanette abrupt das Thema.
»Sie ist sehr hübsch. So wie alle aus deiner Familie.«
»Magst du sie?«
»Ja. Ich mag sie.«
»Das freut mich. Ich habe große Pläne mit meiner Urenkelin, sehr große Pläne…« Nanettes Schlafbedürfnis wuchs, die Gedanken verloren sich und ließen plötzlich alles sinnlos erscheinen. Sie war zu alt, um sich noch um das Wohl ihrer Familie zu sorgen. Bald, bald würde Babette diese Aufgabe übernehmen müssen …
»Nanette! Wach auf!«
Anette, ihre Enkeltochter, deren tiefe, erotische Stimme sie nur zu gut kannte, kam herangestürmt, atemlos und aufgeregt.
»Was ist los?«, fragte Nanette widerwillig.
»Die Rozhkois haben Besuch erhalten. Von einem Pärchen, das von draußen stammt, aber nicht aus dem Innenland.«
»Tatsächlich?« So etwas wie Neugierde erwachte in Nanette. Die Kolonie benötigte dringend frisches Blut, wollte sie nicht an der Dumpfheit und Engstirnigkeit ihrer Bewohner zerbrechen. »Hat uns – wie heißt er noch mal? Juri, nicht wahr? – eingeladen?«
»Nein. Er besucht mich zwar regelmäßig, aber vor seiner Frau René will er sich keine Blöße geben.« Anette kicherte hinter vorgehaltener Hand.
»Nun – das soll uns nicht weiter stören.« Nanette stützte sich ab, der Franke half ihr auf die Beine. »Wir werden den Rozhkois unsere Aufwartung machen und die beiden Fremden begutachten. Und weil wir missachtet wurden, besuchen wir ihre Insel in
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