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235 - Auf dem sechsten Kontinent

235 - Auf dem sechsten Kontinent

Titel: 235 - Auf dem sechsten Kontinent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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einen so fürsorglichen Mann um sich zu wissen«, sagte Nanette und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter.
    Das Versprechen, niemals mehr wieder zu manipulieren, war vergessen.
    ***
    Nach Barter besiedelten sie Hergé, und nach Hergé machte sich ein weiterer Siedlertrupp auf nach Prokofieff. Ein Eiland nach dem anderem wurde mit Hilfe jenes Wissens erobert, das ihnen ihre Vorfahren vererbt hatten. Sie errichteten Windfänge aus Blechplatten, die einstmals Schiffsrümpfe gebildet hatten, und sie begannen mit der ersten Aussaat. Provisorische Windräder erzeugten Energie, um Heizstrahler zu betreiben, die den Frost aus den Beeten vertrieb. Häuser und ganze Siedlungen wurden in den Fels gesprengt, Flächen begradigt, genetisch manipulierte Gräsersamen ausgebracht, die sich zu einem hochwachsenden Gestrüpp entwickelten, das weiteren Schutz bot.
    Die ersten Tunnel entstanden, mit einem Bohrvortrieb, der einstmals eine Schiffsschraube gewesen war. Der Franke leistete während der Arbeiten untertage Unglaubliches. Nimmermüde schwang er sein schweres Gerät, das kein anderer Mensch auch nur schultern konnte. Mit verbissener Wut erledigte er seine Aufgaben, präzise und ohne jemals zu murren.
    Und wenn er einen Tunnel fertiggestellt hatte, setzte er sich vor einen Eingang, summte eine einfache Melodie und starrte hinab ins Dunkel.
    »An was denkst du?«, fragte Nanette eines Tages. »Was siehst du in diesem Loch?«
    »Es ist… leer«, antwortete der Franke. »Wie mein Gedächtnis. Wie meine Erinnerungen.«
    »Du weißt wirklich nicht, wer du bist, nicht wahr?« Nanette wunderte sich selbst über ihr Interesse. Bislang war es ihr vollkommen egal gewesen, was der Franke dachte. Hauptsache, er beschützte sie und kroch vor ihr auf den Knien.
    »Ich bin im Eis zu mir gekommen, inmitten des Nirgendwo.« Er griff sich an den Kopf, das verunstaltete Gesicht zeigte einen gequälten Ausdruck. »Aber es muss etwas davor gewesen sein. Etwas… Schreckliches.«
    »Aber jetzt geht’s dir ja gut, nicht wahr?« Trotz ihres Widerwillens streichelte Nanette den Kopf des Franken. Sie fühlte die kantigen Kiefer, strich an ihnen entlang, bis sie die Schädelknochen unter den Fingern fühlte, eckig und wie mit dem Zirkel eines Baumeisters zu einem Kubus ausgeformt.
    »J… ja.«
    Nanette meinte die Düsternis in seinen Gedanken zu spüren. Da war etwas, das sich bewegte und drehte, drehte und bewegte… Als hätte der Franke ein mechanisches Werk in seinem Kopf, das unentwegt mahlte.
    Seine Blicke richteten sich auf Babette, ihre Erstgeborene, nunmehr zwölf Jahre alt.
    »Gefällt sie dir?«, fragte Nanette.
    »Sie ist wunderschön. Sie sieht dir sehr ähnlich.«
    »Sag schön guten Tag«, verlangte sie von Babette.
    »Guten Tag, Herr Franke. Wie geht es dir?« Die Kleine machte einen Knicks und zeigte genau jenes Lächeln, das ihr Nanette vor dem Spiegel antrainiert hatte.
    »Besser«, antwortete der Mann. In seinen Augen leuchtete es auf. Vergessen war der Trübsinn, vergessen die Suche nach der eigenen Identität.
    Er gehörte ihr. Und heute hatte sie eine Saat gelegt, die erst in einigen Jahren aufgehen würde. Irgendwann würde der Tag kommen, da ihre Reize und ihr Charme nicht mehr ausreichten, um die zahlreichen Männer zu beherrschen, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Macht benötigte. Dann würde ihr eigen Fleisch und Blut an ihre Stelle treten und die Arbeit fortsetzen.
    Der Franke drehte sich wiederum dem Tor zu. Er nahm Hammer und Meissel zur Hand und begann mit verblüffendem Geschick die Formen eines Körperumrisses aus dem Stein zu hauen.
    Nanette nahm ihre Tochter an der Hand und ging davon, ihrer Hütte entgegen. Ihr fröstelte.
    ***
    Babette wuchs heran, zu einem wunderbaren Geschöpf, dessen Schönheit jene der Mutter sogar noch übertraf. Ihre Tochter war eine gelehrige Schülerin. Sie überzeugte durch natürlichen Charme und jene Verführungskünste, die ihr Nanette in hartem Training beigebracht hatte. Reihenweise fielen ihr die Männer zum Opfer – oder vergingen vor Sehnsucht. Je nachdem, wie sich Babette entschied.
    Die drei Gründerinseln waren längst zu eng geworden für die wachsende Bevölkerung. Mit der sich rasant bessernden Wetterlage zogen immer mehr Familien weg und nahmen weitere Inseln in Besitz. Ein Kommunensystem entstand, das durch Selbständigkeit, enge Familienstrukturen und weitgehende Selbstversorgung geprägt wurde.
    »Du machst deine Aufgabe ausgezeichnet«, sagte Nanette. »Die

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