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235 - Auf dem sechsten Kontinent

235 - Auf dem sechsten Kontinent

Titel: 235 - Auf dem sechsten Kontinent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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nachgelassen, ihr Hörsinn ebenso. Trotz allen Komforts und trotz der besten Betreuung musste sie ihrem Alter Tribut zollen.
    Seit mehr als fünfzig Jahren lebte sie nun im Schelfland, sie sah dem achtzigsten Geburtstag entgegen. All ihre Wegbegleiter waren längst gestorben, hatten unter den schwierigen Bedingungen der Inseln nur selten das sechzigste Lebensjahr überschritten. Boris, Gilbert, Jamie, Stephen und wie sie alle geheißen hatten – sie besiedelten nun die Familienfriedhöfe.
    »Geht es dir gut, mamam ?«, fragte Babette. Ihr einstmals strohblondes Haar war nun fast weiß, Falten durchzogen das einstige Püppchengesicht.
    »Ausgezeichnet«, krächzte Nanette. »Setz dich zu mir, mein Kleines.«
    Ihre Tochter gehorchte und entspannte sich seufzend auf der handgeschnitzten Liege eines unbekannten Verehrers. »Wir haben es weit gebracht, nicht wahr?« sagte sie.
    Nanette schnitt ihr das Wort ab und bedeutete dem Mann, der sich um ihre Füße kümmerte, zu verschwinden. »Sei nicht so unvorsichtig!«, mahnte sie Babette, als sie alleine waren. »Wir müssen diese Geschöpfe nicht unbedingt mit der Nase darauf stoßen, was wir von ihnen halten.«
    »Jimbo ist ein debiler Kretin«, sagte ihre Tochter abfällig. »Er würde auch noch den Dreck zwischen meinen Zehen weglecken, wenn ich es von ihm verlangte.«
    »Dennoch«, murmelte Nanette, »dennoch. Wir dürfen sie nicht unterschätzen. Ein falsches Wort zur falschen Zeit…«
    »Du wirst deine Ängste wohl niemals ablegen, mamam ! Die Männer sind nicht mehr das, was sie in deiner und meiner Jugend waren. In den Hütten ihrer Familien hängen sie den großen Zampano heraus und tun so, als sei ihnen alles Untertan. Doch sobald sie uns sehen, vergessen sie alles. Drei Generationen der Gadgets haben mit ihnen gespielt und ihnen gezeigt, wer eigentlich die Zügel in der Hand hält. Ich glaube nicht, dass es im Schelfland einen einzigen Mann gibt, der über fünfzehn Jahre alt ist und noch nicht von uns… gekostet hat.«
    »Manchmal glaube ich, dass es nicht nur an unserem Aussehen liegt«, sagte Nanette nachdenklich. »Da steckt mehr dahinter. Vielleicht sind wir eine Art Mutation, deren Eigenschaften von der Mutter an die jeweils älteste Tochter weitergegeben werden. Alle anderen Nachgeborenen bleiben schwach und farblos, egal, ob Männlein oder Weiblein.« Sie hielt inne, versuchte sich zu erinnern, bevor sie fortfuhr: »In alten Kinderbüchern, die ich noch im Domland las, war die Rede von Sirenen, die Männer mit ihrem Gesang betörten und verführten. Vielleicht sind wir etwas Ähnliches…«
    »Mag sein«, sagte Babette desinteressiert und gähnte. »Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich mich jetzt um Nimues Erziehung kümmern.«
    »Macht sie noch immer Schwierigkeiten?«
    »Sie hat das Aussehen und alle Gaben, die sie benötigt. Aber irgendetwas steckt in ihr, das mir gar nicht behagt.«
    »Und zwar?«
    »Sie ist ein widerspenstiges, verzogenes Gör. Sie hält nicht viel von der Familie und verfolgt eigene Ziele, trotz ihrer Jugend. Sie setzt ihre Begabung nur dann ein, wenn sie es will.«
    »Kann es sein, dass sie verliebt ist? Dass ein Mann über sie bestimmt?«
    »Unmöglich!« Anette lachte. »Niemand kann ihr widerstehen. Sie ist stärker als wir alle – und darin liegt wohl das Problem: Nimue glaubt, dass sie nicht auf uns, ihre Familie, angewiesen ist.«
    »Dann müsst ihr härter durchgreifen«, sagte Nanette. »Brecht sie. Mach ihr ihre Verpflichtungen der Familie gegenüber begreiflich. Wenn nötig, dann tut es mit Gewalt.«
    »Das habe ich ohnehin vor.« Babette stand auf, drückte ihrer Mutter ein Küsschen auf die Stirn und verließ sie.
    »Gutes Kind«, murmelte Nanette, »gutes Kind.«
    ***
    Früher war alles besser gewesen. Die Männer hatten zwar mehr Widerstandskraft gezeigt, aber auch mehr Verstand. Heutzutage war Nanette von dumpfen Bauern umgeben, die vieles verlernt hatten. Das Wissen ihrer Vorväter war in unzureichendem Maße durch die Generation weitergegeben worden. Der letzte Biogenetiker war vor mehr als zehn Jahren gestorben. Seitdem war auf den Inseln keine Anpassung von Gemüse oder Fleischtieren mehr gelungen. Die Schelfländer verließen sich auf Gelerntes und konzentrierten sich fast ausschließlich auf Land- und Forstwirtschaft, auf Rohstoffabbau, Salzgewinnung und ähnliche Dinge.
    Nanette seufzte. Wahrscheinlich trugen sie und ihre Nachkommen eine Mitschuld an diesen Veränderungen. Die unterdrückten Männer

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