235 - Auf dem sechsten Kontinent
Schelfländer fressen dir aus den Händen.«
»Und dir auch, mamam« , sagte ihre Tochter höflich.
»Deine Lügen verfangen nicht bei mir. Du weißt ganz genau, dass meine beste Zeit vorüber ist.« Nanette sagte es nicht ohne Bitternis. Die Besuche der Verehrer wurden seltener, der Einfluss ihrer Familie ruhte immer mehr auf den Schultern – besser gesagt: auf dem Körper – ihrer Tochter.
»Es stellt sich die Frage, wen ich heiraten soll.« Babette drehte sich im Kreis und begutachtete im Spiegel kritisch das neue Kleid, das sie sich hatte schenken lassen. »Die Auswahl ist groß. Es kommen mehr als zwei Dutzend Narren in Frage. Große und kräftige Kerle, deren Gehirnmasse, so sie jemals eine besaßen, längst zwischen ihre Beine hinabgerutscht ist.«
»Ich überlasse dir die Wahl«, sagte Nanette. »Letztlich ist es egal. Du beherrschst sie alle. Besser, als ich es jemals zustande gebracht habe. Die Schülerin hat die Meisterin übertroffen. Sieh nur zu, dass dein Zukünftiger möglichst viel Reichtum und Einfluss in die Ehe einbringt, und dass er es ja nicht wagt, uns zu widersprechen.«
»Nun – so einen werde ich wohl finden.« Babette lächelte und zeigte makellos weiße Zähne. Im Gegensatz zu den anderen, hart arbeitenden Frauen der wachsenden Inselkolonien des Schelflandes hatte sie viel Zeit für Körperpflege zur Verfügung. »Ich denke, ich werde einen kleinen Wettkampf ausschreiben und abwarten, wie er sich entwickelt. Ich muss dafür sorgen, dass sie sich gegenseitig misstrauen. Sonst reden sie womöglich miteinander und erkennen die Spielchen, die ich treibe.«
»Klug gedacht, meine Kleine.« Nanette streichelte ihrer Tochter übers strohblonde Haar. »Bei allem, was du tust, achte stets darauf, dass du es dir niemals mit dem Franken verdirbst. Gib ihm von Zeit zu Zeit, wonach ihm verlangt. Gerade so viel und so oft, dass sein Appetit nicht nachlässt.«
»Er ist widerlich«, sagte ihre Tochter und schüttelte sich.
»Mach es so, wie ich es immer getan habe«, riet Nanette. »Augen zu und durch. Und denk dabei stets daran, was auf dem Spiel steht: unsere Freiheit, unsere herausragende Stellung, unsere Macht.«
»Ja, mamam.«
***
Babette gebar Anette, und Anette brachte Nimue auf die Welt. Alles änderte sich ringsum. Nur die Rolle der Gadgets, wie Nanette ihre Familie irgendwann einmal getauft hatte, blieb gleich. Sie waren die einzige stabile Komponente inmitten einer allmählich aufblühenden Kolonie.
Aus dem Kernbereich der zuerst besiedelten Inseln strömten die Menschen zu den weiter abgelegenen, machten sie sich Untertan, erweiterten ihre Besitztümer und verfeinerten ihre Kenntnisse in Landwirtschaft und Viehzucht. In vitro gezogene Rinder, Schweine und Hühner belebten bald einzelne Inseln.
(in vitro; lat. im Glas: organische Vorgänge, die in einer künstlichen Umgebung außerhalb eines lebenden Organismus durchgeführt werden)
Exotische Früchte wurden ebenso erfolgreich angepflanzt wie gentechnisch veränderte Gemüsesorten.
Das Biotief wurde entdeckt; eine Mischung aus Fleisch und Getreidefrucht, dessen seltsame Strukturen keine Rückschlüsse auf seine Herkunft zuließen. Es gedieh mittlerweile auf fünfzig oder mehr Inseln, bohrte sich mit kräftigen Wurzeln ins Erdreich und düngte dieses mit seinen Ablagerungen, während es Nahrung lediglich durch Photosynthese zu sich nahm. Wenn das Biotief heranreifte, rieben die zentimeterdicken Halme gegeneinander, so laut, dass es sich wie das Brüllen eines Neugeborenen anhörte. Nach seiner Befreiung aus dem Boden hauchte es beglückt sein seltsames Leben aus, um die Mägen der Farmer zu füllen. Gekocht, gebraten, als Beilage, gemahlen und in Form von Brot, als Suppengrün oder als Würze.
Niemand verstand das Biotief, niemand konnte sein Geheimnis lüften. Es war nicht von dieser Welt, es war so ganz anders, als wäre es aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Universum an die Strände der Schelfinseln geschwemmt worden.
Nanette streckte ihre arthritischen Füße aus. Ein Kerl, dessen Name sie nicht einmal kannte, begann sie zögerlich zu massieren. Annette, ihre Enkelin, hatte es ihm auf getragen, und er würde alles tun, um ihr zu gefallen.
Sie genoss die kräftigen reibenden Bewegungen des Mannes und die angenehme Wirkung des Eukalyptus-Öls, das allmählich in ihre Blutbahnen vordrang. Die Unterwürfigkeit ihrer Bediensteten war eines der wenigen Dinge, die sie noch genießen konnte. Ihr Augenlicht hatte
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