24 - Ardistan und Dschinnistan I
ihrem Sitz aufgestanden, indem sie sprach. Sie stand an der nördlichen Brüstung der Plattform, während ich an der südlichen saß. Ihre weiße Gestalt ragte vor mir inmitten der Glut, welche das hochliegende Bergland zu uns herniedersandte. Sie erschien von heiligem Licht eingerahmt, wie ein Wesen, welches nicht von der Erde stammt, so wissend, so rein, so heilig. Ich mußte an die Norne Urd, die altgermanische Schicksalsgöttin, denken, die ebenso, dem Geschlecht der Riesen entstammend, auf dem Gewordenen steht und das Werdende überschaut, um das Werdensollende zu erkennen. Es stieg ein unbeschreibliches Gefühl in mir auf, aus der Tiefe meiner Seele, ein Gefühl, welches ich bisher noch nie empfunden hatte. Es war nicht Liebe; es war nicht Bewunderung, nicht Hochachtung oder Vertrauen, aber dennoch war es das, und noch viel mehr als dieses alles. Es kam auch eine ganz besondere Gabe von Mitleid hinzu. Was sollte dieses Gefühl? Wer gab es mir? Floß es aus ihrer Atmosphäre auf mich über? Da drehte sie sich, als ob sie von diesen meinen Gedanken berührt worden sei, nach mir um und sprach:
„Ssahib, wundere dich nicht über das, was ich sage! Wundere dich auch nicht über die Art und Weise, in der ich rede! Meine Heimat ist Sitara, das Land der Berge Gottes, von dem du wohl noch keine Kunde hast. Zwar wurde ich nicht dort geboren, auch meine Eltern und Voreltern nicht. Aber meine Ahnen stammen von dort. Sie wurden beide in dieses niedere, feuchte Land der Ussul gesandt, um diese armen Leute über Gott, ihren Herrn, und über die Aufgaben des Menschengeschlechtes zu belehren. Ich glaube, ihr Europäer nennt das Mission. Sitara hat eine Herrscherin, keinen Herrscher. Dieses Prinzip folgte meinen Ahnen mit hierher. Die Überlieferungen aus der Heimat erbten von Glied zu Glied stets auf die älteste Tochter über. Zwar wurde der Ussul, den sie sich zum Mann wählte, Priester, aber das Wissen, die Würde, die Befähigung, die kam von ihr. So ist es gewesen bis auf den heutigen Tag, und so darf und kann – kann – kann es leider nicht bleiben.“
Sie hatte diese letzten Worte nur zögernd ausgesprochen und setzte sich dabei wieder nieder, als ob sie plötzlich müde geworden sei. Dann fuhr sie fort:
„Die Nachkommen meiner Ahnen sind verschwunden, sind Ussul geworden, sind ganz im Volk aufgegangen. Aber das war es ja, worin ihre Sendung bestand: Während sie herniederstiegen, hoben sie das Volk. Die Oberfläche dieses Menschenmeeres ist eine reinere, gesündere und bewegtere geworden. Und in der Tiefe ruhen nun die hinabgesunkenen Muscheln, damit es möglich sei, daß Perlen entstehen. Auch ich bin eine Ussul geworden. Aber ich habe das, was ich von den Ahnen ererbte, bewahrt, beschützt und vermehrt, wie man Juwelen behütet. Gott gab mir ein Kind, eine liebe, kluge, für alles Edle begeisterte Tochter. Ihr fiel die Aufgabe zu, meine Nachfolgerin zu werden. Darum schmückte ich ihren Geist und ihre Seele schon von früher Jugend an mit den Schätzen, zu deren Behüterin und Bewahrerin sie berufen war. Ich legte ihr, indem sie emporwuchs, ein Juwel nach dem andern an, und es war in meinem Mutterherzen eine Freude und Wonne zu sehen, daß sie an Erkenntnis, Innerlichkeit und Tiefe wohl alle ihre Vorgängerinnen übertreffen werde. Ihr Vater, der Sahahr, der niemals aufgehört hat, mich zu lieben und mich zu ehren, fühlte sich nicht weniger glücklich als ich. Er setzte sein ganzes Hoffen und Wünschen allein nur auf dieses Kind. Sein Glaube an Gott nahm eine andere Richtung an. Er stieg vom Himmel auf die Erde nieder. Sein Glauben und sein Hoffen auf die Zukunft dieses Kindes wurde ihm zur Religion. Er war Ussul, aber ein Ussul mit aufrichtig edlem Streben. Dieses Streben gipfelte in den einstigen Aufgaben seiner Tochter. Er arbeitete ihr mit allem Fleiß im tiefsten Innern voran, um ihr die Lösung derselben zu ermöglichen. Wer nach dieser Tochter griff, der griff nach seinem Glauben, und wenn diese Tochter starb, so starb auch sein Glaube, seine Religion, sein – Gott! Kannst du das begreifen, Ssahib?“
„Sehr wohl!“ antwortete ich, innerlich tief bewegt. Denn nun war mir der Haß des Sahahr kein schmerzliches Rätsel mehr. Ich konnte ihn verstehen und entschuldigen.
„Da kam der Dschinnistani“, fuhr sie fort. „Als Arzt berühmt, so weit die hier bekannte Erde reicht, war er ein schöner, seelengroßer Mann, an Geist uns alle überragend, und dabei doch so einfach und bescheiden, daß er
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