Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
24 - Ardistan und Dschinnistan I

24 - Ardistan und Dschinnistan I

Titel: 24 - Ardistan und Dschinnistan I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
und zwar an einem Ort, den außer mir gewiß noch kein europäischer Christ betreten hatte! Vor allen Dingen aber die hoch aufgerichtete Gestalt unserer Gebieterin! Diese Stirn, dieser Nacken, diese Augen! Wie oft hatte Hadschi Halef, wenn er ernstlich über sie nachdachte, zu mir gesagt: Sie ist kein gewöhnliches Weib; sie ist auch keine Königin. Sie ist ein Dschinni, eine Seele, ein Geist. Ja noch mehr: sie ist nicht nur Seele oder Geist, sondern sie ist die Herrin und die Gebieterin aller Seelen und aller Geister, die es gibt. Allah segne sie!
    Er versuchte, sich in dieser ihm eigentümlichen Weise über sie klarzuwerden, und ich muß gestehen, daß ich ihm niemals widersprochen habe, sooft er es auch tat. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick, überkam auch mich ein Etwas, was mehr als eine Ahnung war, daß in dieser unvergleichlichen Frau Gedanken, Gesinnungen und Kräfte lebten, die meine Schulpsychologie unmöglich zu fassen vermochte. Es war mir zumute wie einem unbefangenen, gläubigen Kind, welches zum erstenmal in seinem Leben in das Theater kommt und nicht im geringsten daran zweifelt, daß die Zauberwelt, die sich vor seinen Augen entrollt, in Wirklichkeit vorhanden ist. Die Menschheitsseele ist in jedem Menschen tätig, in vielen einzelnen sogar in ganz besonderer Weise, in Marah Durimeh aber so, wie sonst wohl niemals wieder. Und der Mann, der da unten an der Spitze seines Bootes im Gebet kniete, kam mir vor wie ein Abgesandter der Menschheit, die nach ihrer Seele sucht und nach Rettung aus Leibesgefahr.
    Nun verstummten die Glocken. Das Gebet war vorüber; die Dämmerung stieg von den Bergen. Der betende Mann im Boot erhob sich und lenkte sein Fahrzeug an das Ufer. Dort stieg er aus und verschwand zwischen den Häusern, auf dem Weg, der zu uns führte. Nach kurzer Zeit wurde gemeldet, daß er da sei und darum bitte, die Herrin sprechen zu dürfen. Sie entfernte sich, um seinen Wunsch zu erfüllen. Ich blieb mit Schakara allein. Diese hatte in ihrer schwesterlich fürsorglichen Weise den Wunsch, mich vorzubereiten. Sie sagte:
    „Vielleicht wäre es besser, du hättest uns schon verlassen. Ich befürchte, die Herrin gibt dir Schweres zu tun!“
    „Wohl gar Unmögliches?“ fragte ich lächelnd.
    „Nein; das tut sie nicht.“
    „So sorge dich nicht, o Schakara! Seit sie den Mir von Dschinnistan genannt hat, hoffe und wünsche ich sogar, daß ich noch nicht abzureisen brauche.“
    „Reisen wirst du auf jeden Fall!“
    „Aber wohin, wenn nicht heim?“
    „Zum Mir.“
    „Zu ihm?“ fragte ich, ebensosehr erfreut wie erstaunt.
    „Ja, zu ihm. Du warst noch nie in Dschinnistan. Aber du weißt, wo es liegt?“
    „Ja.“
    „Und wie außerordentlich unzugänglich es ist?“
    „Auch das. Es gibt nur zwei Wege: entweder vom Balkasch-See aus, und der ist entsetzlich weit; oder man reitet durch das ganz Reich von Ardistan, und der ist wohl kürzer, aber gefährlicher.“
    „Viel, viel gefährlicher! Kennst du den Mir von Ardistan?“
    „Nein. Aber gehört habe ich von ihm.“
    „Was?“
    „Er ist ein Gewaltmensch, ein Tyrann –“
    „Ein Freund des Krieges, ein Hasser des Friedens“, fiel sie lebhaft ein. „Jeder gesunde Mann seines Landes ist Soldat. Für die Werke des Friedens hat er nur Kranke und Krüppel übrig.“
    „Das ist zwar traurig, aber was geht das mich an? Ich will doch nicht zu ihm, sonder zum Mir von Dschinnistan. Und selbst wenn ich zu ihm wollte, würden seine kriegerischen Neigungen doch wohl kein Grund für mich sein, auf die Reise zu ihm zu verzichten. Ich glaube sogar, daß sie mir eher Nutzen als Schaden brächten.“
    „Unter gewöhnlichen Verhältnissen, vielleicht. Aber auch da ist es für jeden Europäer in hohem Grade gefährlich, sein Land zu betreten. Er haßt alles, was aus dem Westen kommt; besonders aber haßt er die Menschen, die dort wohnen. Wenn er erführe, daß du ein Europäer bist, so –“
    Sie konnte den angefangenen Satz nicht vollenden; sie wurde unterbrochen. Marah Durimeh kehrte zurück. Sie besaß eine beispiellose Selbstbeherrschung. Trotzdem aber bemerkte ich, als sie zu sprechen begann, an dem nicht ganz zu unterdrückenden Zittern ihrer Stimme, daß sie innerlich erregt war.
    „Die Audienz ist nur für einstweilen unterbrochen“, sagte sie. „Der Bote hat mir noch viel zu berichten. Er wird wiederkommen. Für jetzt mußte ich vor allen Dingen zu euch zurück, um euch zu sagen, daß das entsetzliche Unglück, welches ich verhüten

Weitere Kostenlose Bücher