24 - Ardistan und Dschinnistan I
noch nicht verlassen hast.“
„Gut? Für wen?“ fragte ich.
„Für dich, für mich und besonders auch für den Mir von Dschinnistan.“
Da war ich es nun, der von seinem Sitz aufsprang und überrascht ausrief:
„Für uns und auch für ihn? Wieso? Das ist ein Rätsel. Ich bitte, es zu lösen!“
Sie richtete ihre Augen groß und voll auf mich, als ob sie mit diesem Blick mein ganzes, inneres Wesen durchdringe, und antwortete dann:
„Das größte aller Rätsel bist du selbst. Indem du dieses löst, löst du auch das des Mir von Dschinnistan. Setze dich! Und warte, bis ich mit dem Boten gesprochen habe!“
Das war so ihre Art, Problem mit Problem zu beantworten. Ihr größtes Glück bestand darin, menschheitsinnerliche Werte zu verschenken; aber sie warf sie nicht billig hin, sondern man hatte sie durch eigenes Nachdenken zu finden und sich anzueignen. Daß ich ein Rätsel bin, versteht sich ganz von selbst. Jeder Mensch ist eines. Wer das erkennt, hat schon mit der Lösung begonnen. Die Antwort auf die Menschheitsfrage suchen, heißt leben. Wer da stirbt, ohne gesucht zu haben, der hat nicht gelebt, sondern nur vegetiert und wird Kompost, weiter nichts!
Das, was zunächst ein Punkt gewesen war, hatte sich inzwischen vergrößert. Es erschien als weißes Segel. Dann sah man, daß es drei Segel waren. Später bemerkte ich, daß das Boot nicht einen, sondern zwei Masten hatte, an welche die Segel kreuzweis gezogen waren. Eine solche Stellung der Leinwand hatte ich noch nie gesehen; aber sie war außerordentlich praktisch. Das Vordersegel schraubte sich als Luftbohrer in die Ferne, und die beiden Hinterbootsegel standen wie ein Pflug, mit scharfer Schneide nach vorn, nach hinten und breit offen, so daß nicht der geringste Teil des Luftdrucks verlorengehen konnte. Bemannt war das Boot mit nur zwei Hilfspersonen, welche die Leinen und das Steuer führten; ihr Gebieter aber stand ganz vorn am äußersten Bug. Hoch aufgerichtet, weiß gekleidet, den einen Arm stolz in die Hüfte gestemmt, mit nachflatterndem Turbantuch, glich er in der gegenwärtigen Beleuchtung weniger einem gewöhnlichen, irdischen Boten, sondern vielmehr einem jener überirdischen Wesen, von denen die uralte, orientalische Sage erzählt, daß sie mit ihren Fahrzeugen ganz plötzlich aus der Tiefe des Meeres auftauchen und an den Wohnorten der Menschen landen, um ihnen den Gruß der Ewigkeit und den Segen des Himmels zu bringen.
Und jetzt, da sich das Boot dem Hafen näherte, kam der Augenblick, in dem die Sonne versank. Durch all das Licht, welches auf dem Meeresfluten lag, zuckte ein durchsichtiger leichter violetter Schatten. Die Heiterkeit des goldenen Tages verwandelte sich mit einem Schlag in den Ernst des nahenden Abends. Von der nahen Moschee erscholl der Ruf des Muezzin:
„Heeehhh alas salah! Heeehhh alal felah! Auf zum Gebet! Auf zum Heil! Die Sonne hat sich in das Meer getaucht! Die Zeit des Untergangs ist da und mit ihr die Stunde des Gebetes. Gott ist groß! Gott ist groß! Gott ist groß!“
Von dem freien Platz herauf ertönte die Stimme des Vorbeters:
„Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis sei Gott, dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichts! Dir wollen wir dienen, und zu dir wollen wir flehen, auf daß du führest den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich freuen –“
Weiter konnten wir hiervon nichts mehr hören, denn nun fielen die ehernen Stimmen der christlichen Glocken ein und zogen jeden andersschwingenden und andersklingenden Ton in ihr herrliches Abendgeläute. Da stand Marah Durimeh auf und wir mit ihr. Wir falteten die Hände. Sie aber deutete nach dem Turm, wo man läutete, und sprach:
„Dies ist der Ton, der durch das Weltall kling,
Der einzige Ton, der Glück und Frieden bringt.
In ihm verschwindet aller Erdenstreit;
Gepriesen sei der Herr in Ewigkeit!“
In diesem Augenblick hatte das Boot den Hafen erreicht. Der Bote sah seine Herrin auf dem Söller stehen. Er grüßte mit beiden Armen zu ihr herauf. Dann kniete er da, wo er gestanden hatte, nieder und faltete die Hände, um ebenso, wie alle Welt, zu beten. Der Eindruck, den dies machte, läßt sich gar nicht beschreiben. Diese ganze, unvergleichliche, erdenferne Örtlichkeit! Diese am Himmel und über die Erde hinzuckenden, mehr und mehr ersterbenden Tinten! Die dunkle Mauer des hinter uns drohenden Gebirges! Die immer magischer und mystischer werdende Färbung der See! Dieses Glockengeläut,
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