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24 - Ardistan und Dschinnistan I

24 - Ardistan und Dschinnistan I

Titel: 24 - Ardistan und Dschinnistan I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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kommt!‘
    Sooft ein Jahrhundert vorüber ist, springen alle Pforten und Tore des Paradieses auf, und eine unendliche Fülle durchdringenden Lichtes flutet über die Erde und über die Menschen hin, die auf ihr wohnen. Da wird alles, alles offenbar, was je geschehen ist und was noch heut geschieht. Die Erzengel treten vor die Tore. Ihre Scharen erscheinen zu Tausenden und zu Zehntausenden auf den Mauern. Sie schauen herab, ob endlich Friede sei; aber stets ist Krieg und Mord und Zank und Streit. Da erheben sie ihre Stimmen. Ein Wehschrei erschallt; er steigt vom Himmel auf die Erde nieder. Das Licht verschwindet, mit ihm das Paradies. Den Schrei aber hören nie die Mächtigen, die Reichen, die Sieger, sondern nur die Schwachen, die Armen, die Unterdrückten und Geknechteten, die händeringend und hilfeflehend in stiller Kammer beten, daß Gott, der Herr, sie von ihrem Leid, von ihrer Qual erlöse.
    Diese Bitten und Gebete sind mächtiger als die mächtigsten der Menschen. Was kein Sterblicher vermag, das vermögen sie. Sie steigen unsichtbar zum Paradies empor, versammeln sich vor seinen Mauern und wachsen zu Millionen und Millionen an. Sie helfen einander, heben einander über die Mauern hinweg, dringen ein in das Paradies und klammern sich an die Engel. Sie heften sich an die Flügel der Gnade, an die Fittiche des Erbarmens, die über dem Paradiese wehen, und werden von ihnen emporgehoben zum Allbarmherzigen, um in sein Herz zu dringen und es anzufüllen, bis es überschwillt. ‚Gib Frieden!‘ jammert es über die Erde. ‚Gib Frieden!‘ klagt es durch das Paradies. ‚Gib Frieden!‘ bittet es in Gottes eigener Seele. Da sendet er den strengsten aller Geister, der Moses heißt, zum Sinai hernieder. Der schreibt in Stein:
    ‚Du sollst nicht töten!
Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch vergossen werden!‘
    Kaum hat das Volk der Menschen dieses Wort vernommen, so bricht es auf dem Berg Sinai, stürzt über das Land der Kananiter und opfert ganz demselben Gott in Strömen von Menschenblut, die durch Jahrhunderte fließen und bis zum Himmel rauchen. ‚Gib Frieden!‘ jammert es wieder über die Erde. ‚Gib Frieden!‘ klagt es wieder durch das Paradies. Und ‚Gib Frieden!‘ bittet es wieder in Gottes eigener Seele. Da sendet er den liebevollsten aller Geister, der Jesus heißt, zur Erdenwelt hinab. Der lehrt und ruft, daß man es durch alle Lande hört:
    ‚Liebet eure Feinde! Segnet, die euch verfluchen! Tut Gutes denen, die euch hassen! Und betet für die, welche euch verleumden und verfolgen! Denn wer zum Schwert greift, der wird durch das Schwert umkommen!‘
    Dies heilige Wort der Menschen- und der Nächstenliebe ist nie verklungen. Es klingt noch heut. Man hört es wohl, doch keiner will es achten. ‚Gib Frieden!‘ jammert abermals die Erde. ‚Gib Frieden!‘ klagt das leere Paradies. Und ‚Gib Frieden!‘ bittet Gottes eigene Seele. Da sendet er den irdischsten aller Geister mit Namen Mohammed, der fast noch menschlich spricht und darum leicht begriffen werden kann. Doch der verirrt sich zwischen Paradies und Erde und sucht vergeblich nach dem rechten Weg, der tief hinab zum Menschenherzen führt. Da spricht der Herr: ‚Wenn keiner es erreicht, daß Friede werde, so gehe ich nun selbst!‘ Er schlägt den Mantel menschlicher Gestalt um seine Schulter und steigt zur Quelle Ssul (der Friede) im Paradies hinab. Die wächst bis Dschinnistan zum breiten Strom und fließt von da durch Ardistan, an beiden Ufern Frucht und Segen spendend, um an der Mündung neues Land und neues Volk zu schaffen. So wandert er, dem Fluß folgend, hinab nach Dschinnistan, um zunächst dort den Willen des Himmels zu verkünden. Doch kaum hat er sein Friedenswerk begonnen, wird er erkannt, und alles eilt herbei, ihn anzubeten. Er segnet jeden, der vor ihm erscheint, doch nur dem Mir gestattet er, in die Zeitenfernen zu schauen, in denen nicht mehr der Säbel und die Kanone, sondern nur der blanke Geist und der blitzende Gedanke die Schlachten schlagen. Dann wandert er weiter, am Strom abwärts, bis nach Ardistan. Er glaubt, er komme grad zur rechten Zeit, denn überall, wo er erscheint, ertönen Kriegstrompeten. Der Mir von Ardistan will Dschinnistan erobern und rüstet heimlich zum plötzlichen Überfall. Der Herr versucht an vielen Orten zu Wort zu kommen, um das Verhängnis aufzuhalten, doch vergeblich. Und als er in der großen Stadt des Mir, die glänzend wie ein Traumbild aus dem Märchenland am Strom liegt,

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