24 weihnachtliche Geschichten - ein Adventskalenderbuch
In der Eile hat niemand mitbekommen, dass Marie sie sicher verstaut hat. Unter den Sommerklamotten. Ganz weit hinten im Schrank.
4. Dezember
Kristina Dunker
Überraschung im Schnee
Wir hatten die Terrassentür geöffnet,
um zu lüften. Ich stand mit dem Rücken zu den anderen und sah in den abendlichen, verschneiten Garten hinaus.
„Nun sei nicht enttäuscht, Jule“, sagte mein Vater.
War ich aber. Wozu Wunschzettel schreiben, wenn man sowieso nicht bekommt, was draufsteht? Brummig lief ich nach draußen. Meine Füße sackten tief in den Schnee. Trotzdem ging ich weiter bis zum Zaun.
Mein Bruder bekam zu Weihnachten bestimmt den teuren Technikkram, den er haben wollte. Warum gab es für mich nicht, was ich mir am allermeisten wünschte: ein eigenes Pferd? War das wirklich so aus der Welt für eine normale Familie? Woher wollte mein Vater das überhaupt jetzt schon wissen?
Im Winter sah das Wäldchen hinter unserem Garten wie verzaubert aus. Noch während der Schneeball an einem Stamm zerplatzte, hörte ich auf einmal ein gleichmäßiges Knacken. Schnell wurde es lauter, kam näher und brach plötzlich zwischen den Tannen hervor: Rentiere!
Sie stoppten ein paar Meter vor unserem Zaun, schüttelten ihre felligen braunen Köpfe, stießen mit den Geweihen gegen die schneebeladenen Zweige und waren im Nu von oben bis unten weiß.
„Brrrr!“, rief eine tiefe Stimme, und ein rot-goldener Schlitten hielt hinter ihnen. Ich war sprachlos. Das musste der Nikolaus sein!
Er bemerkte mich nicht, sprang vom Schlitten und stapfte schimpfend auf eines der Rentiere zu. Auf dessen Halfter stand der Name Horst.
„Knittriges Geschenkpapier!
Was ist das denn wieder hier?“
Horst hatte das linke Vorderbein angewinkelt. Der Nikolaus streichelte ihn und murmelte:
„Nur die Ruhe, Horsti-Schätzchen,
kriegst auch gleich ein Kräuterplätzchen.“
Er begann, das Bein abzutasten. Vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug. Horst stieß einen Schmerzensschrei aus, stellte sich auf die Hinterläufe und drohte durchzugehen. Der Nikolaus riss die Arme hoch, hustete, bis er sich verschluckte, und jammerte:
„Grippe und ein lahmes Bein,
darf es sonst noch etwas sein?!
Geht’s nicht weiter mit Gesaus,
lieber Horst, dann ist es aus,
kommt dies Jahr kein Nikolaus!“
„Das wäre aber schade“, sagte ich. „Ich kriege zwar nie, was ich mir wünsche, aber gar keine Geschenke zu bekommen, ist ganz blöd. Auch zu Nikolaus.“
Überrascht drehte sich der Nikolaus um.
„Ich bin Jule“, stellte ich mich vor. „Kann der Horst nicht mehr weiter? Auch nicht, wenn Sie ihm einen Verband machen?“
Der Nikolaus schüttelte den Kopf, kramte traurig nach einem Taschentuch und schnäuzte sich die vom Schnupfen geschwollene Nase.
„Vierten Zwölften haben wir.
Wo soll’s hin, das kranke Tier?“
Er schluchzte fast.
„Ich kann Horst nehmen“, bot ich an. „Ich mag Tiere.“
Da ich mir sicher war, dass der Nikolaus wie alle Erwachsenen reagieren würde, nämlich erst mal sagen, dass ein Kind sowieso nicht viel helfen könne, redete ich ohne Punkt und Komma auf ihn ein. Ich erzählte von meinen Erfahrungen mit den Pferden im Reitstall, den vielen Tierbüchern, die ich besaß, und von unserer geräumigen Gartenhütte, in der Horst bestens untergebracht wäre. Der Nikolaus hörte aufmerksam zu.Trotzdem fürchtete ich, dass er ablehnen würde. Doch das tat er nicht.
„Apfel, Nuss und Mandelkern,
so ein Kind, das seh ich gern!“
Im Nu schirrte er Horst aus und führte ihn zur Hütte. Drinnen war nicht so viel Platz, wie ich gehofft hatte, aber zwischen Grill, Sonnenliegen und Rasenmäher konnte Horst sich immerhin noch um die eigene Achse drehen. Dass er dabei mit seinem Geweih ein paar Blumentöpfe umstieß, war nicht zu ändern.
„Wirklich herzlich lieb von dir.
Heu und Hafer frisst mein Tier.
Und ’ne Decke wär nicht schlecht,
so machst du’s dem Horsti recht.“
Der Nikolaus drückte mir einen Sack Futter in die Arme, legte eine Tube Salbe obendrauf und teilte mir mit, dass er Horst morgen wieder abhole. Dann eilte er zu seinem Schlitten zurück, winkte und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
War alles nur ein Traum gewesen?
„Jule“, rief meine Mutter, „du erkältest dich!“
Aus der Gartenhütte drangen Poltern und Schnauben. Kein Traum. Also rein ins Haus, eine Taschenlampe suchen, warme Sachen anziehen und danach noch mal heimlich zum „Stall“.
Während meiner Abwesenheit hatte Horst die
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