2493 - Der Weltweise - Leo Lukas
schütteren Pelz verunzierten Räude und Schürfwunden.
»Verflixt, Tante, warum engagierst du keine Hilfskraft? Du kannst den Haushalt nicht mehr alleine führen. Schon wieder hast du einen Unfall gehabt und dir wehgetan. Wie oft muss ich noch schimpfen mit dir?«
»Ach Junge, wieso soll ich Fremde in meinen Bau lassen? Viel lieber ist mir, wenn du das erledigst.«
Sahmsivil schnaubte in sich hinein. Das alte Dilemma: Solange er sich um sie kümmerte, akzeptierte sie keine andere Hilfe.
Aber sollte er deswegen den Kontakt abbrechen? Sie einfach vergessen, als ob nichts gewesen wäre?
Er lenkte sich mit Näherliegendem ab. Holte den Blasebalg, pustete in die kläglichen Reste ihres Unterfells Luft, die gegen Kälte isolierte und für den nötigen Auftrieb im Wasser sorgte. Widmete sich den empfindlichsten Körperteilen: Kopf, Armen, Beinen, insbesondere den großen Füßen mit den Schwimmhäuten, die sich flossenartig zwischen dem fünften, äußersten, längsten Glied und den übrigen Zehen spannten.
»Und du, Sahmsivilchen? Wie geht es dir?«
Während er sie, das Werk vollendend, mit imprägnierendem Öl salbte, antwortete er: »Die Schüler sind anstrengend. Quirlen und quengeln herum, nur Unfug im Sinn. Aber du kennst das ja, warst selber Instruktorin.«
»Weich mir nicht aus, mein Junge. Du wirkst geknickt. Was betrübt dich?«
Er schluckte. Sie hatte ihn nie verstanden, doch immer gestützt. Konnte es schaden, wenn er seine Sehnsüchte vor ihr ausbreitete?
»Gesetzt den Fall«, sagte er, »wir hätten folgende Wahl: entweder weiterhin ein Leben in Ruhe und Muße zu führen, unbedrängt von Feinden, Naturkatastrophen, sonstigen Widrigkeiten, stets ausreichend Verpflegung, ein gemütliches Zuhause, gerade genug Pflichten sowie angenehm banale, nicht übermäßig aufregende Zerstreuung. Kurz: so wie immer. Ja?«
»Oder?«
»Oder wir könnten einmal, ein einziges Mal, an einem weit über unsere Welt hinaus bedeutsamen Ereignis teilhaben. Auf die Gefahr hin, dass wir daran zugrunde gehen. Wie würdest du dich entscheiden?«
»Das ist eine ... akademische Frage.« Soriskuan röchelte. »Wenn wenn nicht wäre, wäre ich dein Onkel ... Überdies erachte ich es für müßig, sich mit derlei Hirngespinsten zu verzetteln. Wir werden geboren, leben, bringen Neue zur Welt, leben noch ein bisschen länger, siechen und sterben. Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter. Mehr ist nicht. Geh jetzt, mein Junge. Ich danke dir. Gute Nacht.«
»Nein!« Sahmsivil rüttelte sie. »Das kann nicht alles sein! Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Ich wünschte, die Sterne fielen vom Himmel, zersprengten unser fahles Idyll, zwängen uns endlich zu anderen, kühneren Gedanken, drängten uns, neue Ideen zu entwickeln, damit ... Tante? - Tante!«
Sie war in seinen Armen entschlafen, ganz ruhig und unauffällig.
»Soriskuan. Mammale. Nein. Du kannst mich jetzt nicht allein lassen. Was soll ich ...?«
Er watschelte auf und ab in der öligen Pfütze, hin und her, kreuz und quer. Irgendwann schaffte er es, ihr die Augenlider zu schließen. Irgendwann schickte er eine Brieftaube zum nächsten Postrelais, um die Bestattung zu bestellen.
Irgendwann sprang er von der Klippe, tauchte tief hinunter, tiefer, noch tiefer, und schwamm, so schnell er konnte, hinaus ins weite, offene Meer.
*
»Du bist ein braver Junge. Viel zu brav. Weißt du das?«
Sahmsivil, pflichtbewusst zurückgekehrt, ordnete die Hinterlassenschaft seiner Tante. Ein paar Dokumente, eine Schatulle voller Halbedelsteine ohne nennenswerte Kaufkraft ...
Mehr war nicht, da hatte sie recht. Es blieb nichts übrig, was die Mühe lohnte. Die ausgediente, schäbige, längst wertlose Einrichtung würde entsorgt werden.
Bald würden neue Siedler den Bau am Fjord beziehen, die Schäden tilgen, danach die Wohnung ausräuchern, sich darin breitmachen, billige Bilder aufhängen ...
Und das Leben ging weiter wie immer. Als ob nichts, als ob Soriskuan niemand gewesen wäre.
»Viel zu brav. Weißt du das?«
*
Um Mitternacht traf er seine Schulklasse.
Er hatte erwogen, die Unterrichtseinheit abzusagen. Seine Rektorin wäre sicherlich damit einverstanden gewesen.
Andererseits, die Schüler, die der Dunkelübung seit Tagen entgegenfieberten, konnten nichts dafür. Vor allem aber hätte Sahmsivil nicht gewusst, wie er die Nachstunden sonst verbringen sollte.
An Schlaf war nicht zu denken. Der Tod seiner Tante wühlte ihn viel zu sehr auf.
Die fünfzehn Kinder
Weitere Kostenlose Bücher