2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
erlaubt mir den Durchgang. „ Abrr schön uffm Wäägli [er
sagt das wirklich so] blüüebä , sonscht ändets hüürr !“ [zwinkert mir zu, als wäre ihm erneut ein
besonders guter Wit z gelungen]. Auch wenn ich den Humor der
Schweizer nicht verstehe, gehe ich doch davon aus, dass sie nicht auf einen
Wanderer mit noch immer zu schwerem Rucksack und einer ausgebleichten Baseballmütze
schießen werden, selbst wenn er aus Deutschland kommt. Kurz darauf laufe ich
durch militärisches Sperrgebiet. Links und rechts knattern Maschinengewehre,
ich halte mir die Ohren zu. Nach einer knappen Viertelstunde ist der Spuk
vorbei. Der Wachposten am Ende des Sperrgebiets zwinkert mir verschmitzt zu,
als wolle er sagen: Glück gehabt.
In der Jugendherberge von Fribourg habe
ich das Pech, einen Spiegel vorzufinden. Unter meinem Sonnenbrand wuchern wilde Bartstoppel , auf der Nase schält sich die Haut. Meine
Hose bietet einen repräsentativen Überblick über den Schmutz der letzten acht
Tage, und auf meinem dunkelgrünen T-Shirt hat der getrocknete Schweiß weiße
Schlieren hinterlassen. Vielleicht ist mein äußeres Erscheinungsbild nicht ganz
unschuldig am Verhalten des lustigen Schweizer Wachpostens. Trotz meines mit
der menschlichen Zivilisation schwer zu vereinbarenden Aussehens bin ich heute
ein bisschen stolz auf mich. In einer Woche bin ich quer durch die gesamte
deutschsprachige Schweiz gelaufen und habe dabei etwa 250 Kilometer
zurückgelegt. Das erste und sicherlich schwierigste Zehntel des Weges ist
geschafft. Zudem ist Fribourg ein interessanter Ort, weil er sich genau an der
Sprachgrenze befindet. In dieser traditionsreichen Stadt, deren Ursprünge bis
in die Römerzeit zurückreichen, sind die Straßennamen, die Werbeplakate und die
Ausschilderungen fast immer zweisprachig geschrieben, wobei man in Fribourg
selbst eher Französisch spricht. Endlich eine Sprache, die ich verstehe, und
bei der ich nicht versuchen muss, Worte wie , Chääshüesli ’ auszusprechen!
Lac Léman
Die Schönen und die Reichen
zwischen Lausanne und Genf
Nachdem ich mir gestern einen Tag Pause
gegönnt habe, steht heute ein Gewaltmarsch auf dem Programm: 40 Kilometer
südwestlich von Fribourg befindet sich mein Zielort Moudon .
Kurz nach Fribourg betrete ich die im Mittelalter erbaute Pilgerbrücke in St.
Apolline, der damals eine Schlüsselfunktion für die Wallfahrt nach Santiago
zukam, und gehe zügig weiter nach Romont , dessen
Geschichte bis ins Jahr 1240 zurückreicht. Immer wieder bemerke ich auf diesem
25 Kilometer langen Teilstück Hinweise auf die Pilgertradition. Römische
Reliquien und moderne Kunstwerke präsentieren zu Dutzenden die mir inzwischen
vertrauten Jakobsweg-Symbole: Die Jakobsmuschel, die die Wallfahrer einst als
Beweis ihrer Ankunft an der galizischen Westküste gesammelt haben; das rote
Schwert, das an die Reconquista und an das Erscheinen von Jakobus matamoros in der Schlacht von Clavijo erinnert; der Pilgerstab als unentbehrliche Hilfe bei Auf- und Abstiegen, und
der Apostel selbst, der zumeist als Pilger mit langem Mantel dargestellt ist.
Zum ersten Mal seit meinem Aufbruch in Konstanz treffe ich auf weithin
sichtbare Zeichen der Pilgertradition, und dort, wo ich meine Fußabdrücke im
weichen Gras sehe — eine flüchtige Prägung der Landschaft, Markierungen
Richtung Galizien, die bereits in wenigen Stunden verblasst sein werden — haben
seit Jahrhunderten andere Pilger ihre Füße gesetzt. Mit welchen Hoffnungen und
Ängsten waren sie auf dem Weg, was trieb sie in den galizischen Wallfahrtsort?
Vielleicht werde ich es wissen, wenn ich die 2.500 Kilometer durchhalte; dann
werde ich etwa drei bis vier Millionen Schritte gemacht haben.
Ein paar Tausend davon werden mir in
lebhafter Erinnerung bleiben: Kurz nach Romont beginnt es weh zu tun; für die letzten fünf Kilometer von Curtil -les
nach Moudon benötige ich knapp zweieinhalb Stunden.
Den ganzen Tag lang hatte ich das Gefühl, dass ich den Weg Meter für Meter
förmlich in mich aufsauge. In Moudon angekommen weiß
ich, dass ich mich dabei heute ein bisschen überfressen habe.
Ein Umweg nach Lausanne
Auch am nächsten Morgen steckt mir die
Überdosis Jakobsweg von gestern noch in den Knochen. Irgendwie beiße ich mich
bis zu dem Städtchen Montpreveyres durch, in dem
darauf folgenden Waldgebiet geht es deutlich besser. Allerdings verlaufe ich
mich im Wegwirrwarr des Waldes, gehe ein paar Stunden lang in
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