2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
oftmals sinnvoller, sich mit einer zufrieden stellenden
Lösung abzufinden, weil man in diesem Fall die Zeit, die man für die Suche nach
einer eventuell vorhandenen noch besseren, vielleicht gar optimalen Lösung
verwendet, nutzen kann, um bereits aktiv und konkret zu handeln. Was wiederum
eine Stressreduktion und somit einen Gewinn an Lebensqualität nach sich zieht,
und genau darin besteht zu einem Großteil die ‚ art de vivre ’, die Lebenskunst vieler Mittelmeervölker.
Rettung in letzter Sekunde
Am Bahnhof von Lausanne nehme ich den
Jakobsweg wieder auf, dem ich bis nach Morges folge. Unterwegs gehe ich am Sitz
des Internationalen Olympischen Komitees vorbei und gerate passender Weise in
einen offiziellen Triathlon. Schwitzende Gestalten mit großen Nummern auf ihren
T-Shirts hasten an mir vorbei, von überall her ertönen Beifallsrufe. Meine
zweimalige Überquerung der Triathlonstrecke stört zum
Glück niemanden. Ab Morges ist die Landschaft definitiv kultivierter als auf
den bisherigen Etappen meiner Reise. Gepflegte Wege schlängeln sich durch
Weinberge und führen an imposanten Villen und alten Schlössern vorbei, die von
abweisenden Zäunen umgeben sind. Die Schönen und die Reichen geben sich am
Genfer See die Ehre. Nach wie vor treffe ich kaum andere Pilger.
Ab Morges vollführt der Jakobsweg
seltsame Zuckungen: Die offizielle Strecke führt mich einen Weg entlang und
parallel wieder zurück, immer wieder unterbrochen von Abstechern ins hügelige
Hinterland. Ich mache das eine knappe Stunde lang mit und wähle dann die
Variante an der Straße entlang bis zu dem Städtchen Nyon, das bekannt ist für
Luxuswaren, schöne Seeblicke und Preise, die man als Passant für ein Versehen
hält. Hier wird der Weg wieder übersichtlicher; allerdings frage ich mich, wie
ich in diesem Gebiet, in dem eine Hotelübernachtung teurer ist als meine
Ausgaben der vergangenen Woche und das offensichtlich so gut wie keine
Erfahrungen mit Jakobspilgern hat, einen Unterschlupf finden soll. Nachdem ich
mehrmals erfolglos versucht habe, einen pilgergerechten Preis auszuhandeln,
merke ich, dass es langsam eng wird. Notgedrungen freunde ich mich mit dem Gedanken an, die Nacht bis Genf durchzulaufen, während wie als
Warnung eine schwarze Wolkenfront vor mir aufmarschiert. Trotzdem nehme ich
wild entschlossen die verbleibenden 20 Kilometer in Angriff, als in dem Dorf
Mies eine junge Dame mit Regenschirm meinen Weg kreuzt, die mir, als sie
bemerkt, dass ich wie sie aus Stuttgart stamme, spontan anbietet, bei ihr zu
übernachten. Kaum kommen wir bei ihrem Haus an, beginnt es zu regnen. Wir
köpfen eine Flasche Wein, und ich verbringe eine geruhsame Nacht, während der
Wassertropfen ein Ballett auf dem Fensterbrett aufführen, das ich leider nur
würdigen kann, bis mir die Augen zufallen.
Rege Diskussionen in der Genfer
Jugendherberge
Am nächsten Morgen schüttet es wie aus
Kübeln. Zum Glück verbleiben nur noch etwa 15 Kilometer bis Genf. Der Jakobsweg
verläuft spektakulär unter der Einflugschneise des Flughafens. Die letzten
Kilometer gehe ich bewusst langsam, um die Vorfreude zu steigern, in der
letzten Stadt der Schweiz anzukommen. Minutenlang halte ich das Ortsschild in
den Händen, ein älterer Herr wirft mir aus seinem Mercedes heraus einen Blick
zu, als wolle er mir den Weg zur städtischen Irrenanstalt beschreiben. 400
Kilometer Fußmarsch liegen hinter mir, von Nordost nach Südwest durch die
gesamte Schweiz. Von nun an wird die Wegführung leichter, und die Abzweigungen
werden besser beschriftet sein. Zudem hoffe ich, bis Santiago immer mehr und
mehr Pilgern zu begegnen.
In der Genfer Jugendherberge treffe ich
einen Franzosen, der in Deutschland geboren wurde, in der Schweiz lebt und
eigentlich nach Paris fahren wollte. Da er den Anschlusszug verpasst hat, ist
er nun zu einer Übernachtung in Genf gezwungen. Der zweite Franzose in unserem
Zimmer hat eben eine viertägige Busfahrt vom Süden Marokkos durch Spanien und
Frankreich bis nach Genf hinter sich; er fährt morgen weiter nach Lausanne.
Zwischen den beiden entfaltet sich eine lebhafte Diskussion über den Ursprung
der Erde und Gottes Rolle dabei, in die ich mich von Zeit zu Zeit einschalte.
Während der Frankreich-Schweiz-Deutsche eine urchristliche Theorie entwirft,
die er mit zahlreichen Bibelzitaten belegt, setzt ihm der Marokko-Reisende ein ,wissenschaftliches’ Modell entgegen, demzufolge die
Planeten wie Wasserblasen sind,
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