Der Sohn der Schatten
KAPITEL 1
Meine Mutter kannte jede Geschichte, die jemals an den Feuerstellen Erins erzählt worden war, und darüber hinaus noch viele andere. Nach einem langen, arbeitsreichen Tag saßen die Leute schweigend rund um das Feuer, um ihr zuzuhören, und staunten über die wunderbaren Bilderteppiche, die sie mit ihren Worten webte. Sie erzählte die zahlreichen Abenteuer von Cú Chulainn dem Helden, und sie berichtete von Fionn MacCumhaill, der ein großer Krieger und ausgesprochen schlau und tückisch war. In einigen Haushalten waren solche Geschichten nur für die Männer da. Aber nicht in unserem; denn meine Mutter webte eine Magie mit ihren Worten, die alle in Bann schlug. Sie konnte Geschichten erzählen, die alle herzlich lachen ließen, und andere, die bewirkten, dass selbst starke Männer schwiegen. Aber es gab eine Geschichte, die sie nie erzählen wollte, und das war ihre eigene. Meine Mutter war das Mädchen, das seine Brüder vor dem Fluch einer Zauberin gerettet und dabei beinahe sein eigenes Leben verloren hatte. Sie war das Mädchen, dessen sechs Brüder drei lange Jahre als wilde Schwäne verbracht hatten und nur durch Mutters eigenes Schweigen und Leiden wieder Menschengestalt erhalten hatten. Es war nicht nötig, diese Geschichte zu erzählen, denn sie hatte längst einen Platz in den Köpfen der Menschen gefunden. Außerdem gab es in jedem Dorf einen oder zwei, die auch den Bruder gesehen hatten, der nur für kurze Zeit zurückgekehrt war, und das mit einer schimmernden Schwanenschwinge an Stelle seines linken Arms. Selbst ohne diesen Beweis wussten alle, dass es sich um eine wahre Geschichte handelte, und wenn meine Mutter, eine schlanke, zierliche Gestalt, mit einem Korb voller Arzneien an ihnen vorbeikam, grüßten sie sie mit großer Hochachtung.
Wenn ich meinen Vater bat, eine Geschichte zu erzählen, lachte er nur und zuckte die Achseln und erklärte, er sei ungeschickt mit Worten, und außerdem kannte er nur eine oder vielleicht zwei Geschichten, die bereits allgemein bekannt waren. Dann warf er meiner Mutter einen Blick zu, und sie schaute ihn an, auf jene Weise, die wie Sprechen ohne Worte war, und dann lenkte mein Vater mich mit irgendetwas ab. Er brachte mir bei, wie man mit einem kleinen Messer schnitzt, und er lehrte mich, Bäume zu pflanzen und zu kämpfen. Mein Onkel hielt das für reichlich seltsam. Es war schon in Ordnung für meinen Bruder Sean, aber wann würden meine Schwester Niamh oder ich uns je mit Fäusten und Füßen, einem Stock oder einem kleinen Dolch verteidigen müssen? Warum sollten wir Zeit darauf verschwenden, wenn wir so viele andere Dinge zu lernen hatten?
»Meine Töchter werden diese Wälder nicht schutzlos verlassen«, sagte Vater einmal zu meinem Onkel Liam. »Man kann den Menschen nicht trauen. Ich möchte keine Krieger aus meinen Mädchen machen, aber ich werde ihnen zumindest die Möglichkeit geben, sich zu verteidigen. Ich bin überrascht, dass du fragen musst, warum. Ist dein Gedächtnis so schlecht?«
Ich fragte ihn nicht, was er damit meinte. Wir hatten alle schon früh erkannt, dass es unklug war, bei solchen Gelegenheiten zwischen ihn und Liam zu geraten.
Ich lernte rasch. Ich folgte meiner Mutter durch die Dörfer, und sie brachte mir bei, wie man Wunden näht, Brüche schient und Husten oder Nesselfieber heilt. Ich beobachtete meinen Vater und erfuhr, wie man eine Eule, einen Hirsch und einen Igel aus einem Stück feinen Eichenholzes schnitzt. Wenn ich meinen Bruder dazu bringen konnte, übte ich den Zweikampf mit ihm, und ich arbeitete an einer Vielzahl von Kunstgriffen, die selbst dann funktionierten, wenn der Gegner größer und stärker war. Und es kam mir häufig so vor, als wäre jeder in Sevenwaters größer als ich. Mein Vater schnitt mir einen Stock zurecht, der genau die richtige Größe hatte, und schenkte mir seinen eigenen kleinen Dolch. Sean war darüber ein oder zwei Tage ziemlich verärgert. Aber er nahm einem nie lange etwas übel. Außerdem war er ein Junge, und er hatte seine eigenen Waffen. Was meine Schwester Niamh anging – bei ihr wusste man nie so recht, was sie dachte.
»Vergiss nicht, Kleines«, sagte Vater ernst zu mir, »dass dieser Dolch töten kann. Ich hoffe, dass du ihn nie zu diesem Zweck einsetzen wirst, aber wenn es sein muss, benutze ihn sauber und mutig. Hier in Sevenwaters hast du wenig Böses erlebt, und ich hoffe, du wirst dich niemals gegen einen Mann verteidigen müssen. Aber eines Tages wird es
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