2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
„Man könnte auf Sie schießen!“
In Konstanz beginnt mein Abenteuer.
Meine Studienstadt am Bodensee, direkt an der Schweizer Grenze gelegen,
erscheint mir als optimaler Ausgangspunkt für meinen Fußmarsch nach Santiago.
Sie liegt direkt auf dem Jakobsweg und ist in eine abwechslungsreiche
Landschaft eingebettet, die dafür sorgen wird, dass ich mich langsam von einer
mir vertrauten Umgebung lösen und in unbekannte Gebiete vorstoßen werde. Noch
weiß ich nicht, ob ich tatsächlich die vor mir liegenden etwa 2.500 Kilometer
bis zur galizischen Westküste durchhalten werde und was mich unterwegs erwarten wird . Ich habe nichts geplant und wenig vorbereitet.
In meinem Wanderrucksack befinden sich neben der nötigsten Kleidung mehrere
Liter Wasser, ein Schweizer Taschenmesser, mein Fotoapparat, Reiseführer und
Wanderkarten, Papier und Kugelschreiber für Notizen und ein Mobiltelefon, das
ich nur auf Drängen meiner Eltern mitnehme. Erst später werde ich lernen, was
davon unentbehrlich ist und auf was ich verzichten kann. Als ich aufbreche,
wiegt mein Rucksack 15 Kilogramm; außerdem habe ich zwei alte Skistöcke dabei,
die ich vor mehreren Jahren für drei Mark auf einem Flohmarkt gekauft habe. An
Santiago denke ich heute nicht; im Grunde genommen will ich nur loslaufen, die
Routine gegen eine Zeit ohne Verpflichtungen, ohne Termine und ohne Vorgaben
eintauschen, mich Schritt für Schritt von meinem bisherigen Alltag lösen, und
vielleicht setze ich mich auch in Marsch, um mir selbst etwas zu beweisen. Erst
nach Wochen werde ich merken, dass dieser Weg mehr ist als eine beliebige
Wanderstrecke.
Der Jakobsweg erzählt Geheimnisse, die
dafür sorgen, dass man mitten im Leben plötzlich beginnt, nachzudenken. Er
bringt uns dazu, dass wir, wenn wir meinen, bereits auf der Zielgeraden zu
sein, den Weg plötzlich als Sackgasse erkennen, während ein bisher kaum
beachteter Pfad zum Ziel führt. Er beeinflusst unsere Entscheidungen und sorgt
dafür, dass wir uns selbst neu und anders kennen lernen, indem er verborgene
Aspekte in uns wachruft. Vor allem aber sät er Ruhe in uns aus.
Von alldem wusste ich nichts. Den
Schweizer Zollbeamten erzähle ich, dass ich hier in der Gegend ein bisschen
wandern will. Als ich die Grenze hinter mir lasse und den ersten dunkelbraunen
Wegweiser Richtung Santiago entdecke, überkommt mich zum ersten Mal ein
euphorisches Gefühl: Jetzt also hat meine bisher längste Reise begonnen, und
vor mir erstreckt sich die sonnenverwöhnte Landschaft der Schweiz wie ein
Willkommensgruß.
Über , s’Hörnli ’
nach Rapperswil
Durch einsame Wälder und vorbei an
verlassenen Gehöften führt mich der Jakobsweg bis in die Ortschaft Münchwilen . Dort angekommen gehe ich schnurstracks auf das
zentral gelegene Hotel zu — eine Angewohnheit, auf die ich im weiteren Verlauf
meiner Reise klugerweise verzichten werde. Ich lehne das freundliche
Übernachtungsangebot für 125 Franken ab und mache mich auf den Weg in den
Nachbarort, als ich am Ortsausgang eine erste und für den weiteren Weg typische
Begegnung mache.
Am Ortsausgang von Münchwilen komme ich an einem kleinen Garten vorbei, in dem eine etwa 40-jährige Frau
Unkraut jätet. Wir sprechen zunächst über Frankreich und die Schweiz,
anschließend über Bücher und Musik, und nach einiger Zeit schlägt sie mir vor,
die Nacht in ihrem ‚bescheidenen Gästezimmer’ zu verbringen. Letzteres stellt
sich als geräumiger Raum mit Dusche und WC heraus, in dem ein mit rotem Samt
überzogenes Doppelbett steht, das locker mit dem 125-Franken-Angebot des
lokalen Hotels mithalten kann. Die Gerüchte über den Reichtum der Schweizer
scheinen nicht übertrieben zu sein, denke ich am Ende meines ersten Tages als
Pilger. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Beine noch da sind, auch wenn
ich sie nicht mehr spüre.
Am nächsten Morgen lerne ich weitere
Eigenarten der Schweiz kennen. Nach einem reichhaltigen Frühstück und dem
Versprechen, ihr zu schreiben, verlasse ich meine großzügige Gastgeberin und
mache mich auf die zweite Etappe, die mich heute in das schöne Städtchen
Rapperswil führen soll. Eine leicht zu bewältigende, etwa 30 Kilometer lange
Strecke, optimal für meine ersten Tage unterwegs, denke ich nach einem Blick in
meinen Reiseführer, der jedoch einen entscheidenden Nachteil aufweist: Er
vermerkt keinerlei Höhenangaben. Süffisant bemerken zwei mir entgegen kommende
Wanderer, dass der Weg nach
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