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254 - Das Nest

254 - Das Nest

Titel: 254 - Das Nest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stern
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spielte sie mit dem Gedanken, sie zu Hrrney zurückzuschicken, damit sie ihren König umbrachten. Doch sie wusste nur zu gut, wie aussichtslos dieser Plan war. Zum einen würde ihr Einfluss nachlassen, wenn die Taratzen ihm längere Zeit nicht mehr ausgesetzt waren, zum anderen war Hrrney nicht leicht zu täuschen. Er würde rasch merken, was mit den beiden niederen Fellquiekern los war. Schließlich hatte er selbst lange Zeit unter Traysis Kontrolle gestanden.
    Traysi schlang gierig das gebratene Fleisch hinunter und hoffte, dass es tatsächlich von dem Gerul(kaninchengroßer, Fleisch fressender Nager) kam, den der Eluu für sie gejagt hatte.
    »Geht schöne Sachen suchen für die Göttin«, befahl sie zwischen zwei Bissen. »Schaut in den Ruinen, was ihr finden könnt.«
    Die Taratzen quiekten leise. »Göttin«, brachte eine der Taratzen krächzend hervor; der Rest des Satzes verlor sich in kehligen, unverständlichen Lauten. Traysi fragte sich, ob die beiden jemals die Menschensprache lernen würden oder ob ihre dahin zielende Beeinflussung vergebliche Liebesmüh war.
    Du hast ein Auge auf sie , vermittelte sie dem Eluu. Und wenn sie abhauen wollen, zerreiße sie!
    Die Lordhexe zog die Decke noch fester um sich. Welche Farbe die Decke wohl hatte? Blau? Rot? Einerlei; hier im Abwasserkanal war es dunkel. Ewig dunkel, so wie für Traysi die Welt dunkel geworden war.
    Der bestialische Schmerz ihrer leeren Augenhöhlen hatte nachgelassen. Aus einem Teil ihres Kleides hatte Traysi einen Streifen abgerissen und ihn sich um den Kopf gebunden. Sie fühlte sich schwach und müde. Noch immer litt sie unter Fieberschüben.
    Der hölzerne Tisch war groß genug, um darauf liegen zu können. Traysi sank zur Seite. Sie spürte die Hitze ihres Körpers. Die Schmerzen waren weniger geworden, das Fieber aber blieb. Immer wenn Traysi glaubte, ihre Verletzung endlich ausgestanden zu haben, gab es einen Rückfall. Manchmal sah sie Hrrney an der Ziegelmauer stehen. Der König der Taratzen kam auf sie zu und warf sich vor ihrem goldenen Tisch und dem Lepaadenfell darauf in den Staub. Schön wie eine Königin ragte sie über ihm auf. Tödlich wie eine Tyrannin richtete sie ihn mit dem Schwert oder einer Axt oder einem reich verzierten Dolch; das änderte sich von Traum zu Traum.
    Ein Lächeln lag auf Traysis aufgesprungenen Lippen. Ja, er soll bluten. Soll verdammt sein. Warum nur hat er uns nicht einfach gehen lassen? Rulfan hätte mich geheilt und wir hätten ein neues Leben begonnen.
    Traysi wollte weinen, doch auch das konnte sie nicht mehr. Der Eluu hatte sie schwer verunstaltet. Schlimmer noch als die einstürzende Kuppel. Es gab Momente, da wollte Traysi die mutierte Eule dazu bringen, sich selbst in der Themse zu ertränken, doch bisher hatte die Vernunft jedes Mal gesiegt. Sie war hilfloser als jemals zuvor und brauchte Verbündete. Vorbei waren die glorreichen Zeiten, als sie einen Taratzenkönig an ihrer Seite gehabt hatte, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas.
    Ja, sie hatte wahrhaft bittere Stunden verbracht. So schlimm wie in diesem Loch war es nie zuvor gewesen. Nicht einmal im Landáner Zoo, als Hrrney sie nach der Kuppelexplosion gesund pflegen ließ.
    Wie soll es weitergehen?
    Sie ließ sich in ihre Fieberträume fallen. Traysi sah Hrrneys Kopf, der ihr von einer anderen Taratze auf einem Silbertablett gereicht wurde. Hrrney töten, ja. Ich will ihn kriechen sehen, ihn vernichten. Aber wie soll es dann mit mir weitergehen?
    Die brennenden Schmerzen, die sie mit dieser Frage quälten, waren schärfer als die in ihrem verunstalteten Gesicht. Gab es denn überhaupt eine Zukunft für sie? Da war nur die lange, die ewige Nacht. Und dahinter wartete der Tod mit seinem schwarzen, samtigen Mantel.
    Ich könnte meine Schwester suchen gehen. Der Gedanke war plötzlich da, ebenso unsinnig wie verwirrend. Mit ihrer Schwester verband sie nichts mehr, seit sie damals deren Freund Melffin ermordet hatte und Gwaysi aus dem heimatlichen Dorf geflüchtet war. [3]
     
    Traysi warf sich von einer Seite des Fells auf die andere. Sie sehnte sich nach einer menschlichen Hand, die ihr den Schweiß von der Stirn wischte.
    Sie musste an Geschichten von blinden Seherinnen denken, die ihre Mutter ihr früher erzählt hatte. War nicht genau das aus ihr geworden: eine blinde Seherin? Ein heiseres Lachen drang aus ihrer Brust. Es hörte sich falsch und unwirklich an, gar nicht nach einem Menschen.
    »Erst Hrrney«, flüsterte sie in die

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