254 - Das Nest
Wächtertaratze lag neben ihm im auf den Steinen. Er hockte am Ufer, starrte in den Fluss und fand doch keine Ruhe.
Immer wieder sah er Chira in die Tiefe stürzen. Hörte er Lays Schrei in der Ferne.
Er spürte, wie seine Augen feucht wurden. Tränen rannen über sein Gesicht. Er wischte sie nicht fort. Es war niemand hier, der sie hätte sehen können, und zum ersten Mal seit Jahren hatte Rulfan das Gefühl, dass die Tränen seinen Zustand verbesserten. Ganz so, als würden Wut und Trauer aus ihm heraussickern und Tropfen für Tropfen weniger werden.
Er verbarg das Gesicht in den Händen.
»Vater… Es gab noch so viel… so entsetzlich viel, was ich dir habe sagen wollen…«
Seine weißen Haare verdeckten sein Gesicht und seine Hände, waren ein Vorhang, der ihn von der Welt abtrennte und ihn verbarg.
Es dauerte lange, bis er zur Ruhe kam. Ihm war, als könne er die Stimme seines Vaters hören: »Man muss mit einem Leben abschließen, um in ein neues gehen zu können.«
»Aber wie?«, murmelte Rulfan gequält. »Wie soll ich weitergehen? So viele Frauen sind gestorben, die ich geliebt habe, oder die mich liebten. Und nun Lay. Was hält mich noch? Wenn ich Matt wäre - ja, Matt, er geht immer voran. Will die Welt retten. Das Gute schützen. Aber ich war nie so idealistisch wie er. Ich will endlich Ruhe.«
Aber stimmte das? Rulfan war alt genug, um zu wissen, dass selbst nach dieser dunklen Phase seines Lebens wieder hellere Stunden kommen würden.
»Rrulfaan«, knurrte eine Stimme neben ihm.
Rulfan sprang auf und ergriff dabei die Waffe. Ganz in seiner Nähe stand eine Taratze. Sie war nicht bewaffnet. Rulfan stürzte vor. Er wollte seine Wut, seine Zerrissenheit nur zu gerne an dieser Bestie auslassen!
Die Taratze wich quiekend zurück. »Nichtt! Trraysssii!«, zischte sie.
Rulfan hielt inne. »Traysi schickt dich?« Wie zum Teufel konnte das Biest seine Sprache sprechen?
Die Taratze nickte. »Mitt komm duu«, brachte sie mühsam hervor. »Trrayssii helffen!«
Rulfan sah zum Fluss. Warum nicht? Es spielte keine Rolle, wo er war, wohin er ging. Das Schicksal zerrte ohnehin unerbittlich an ihm und riss ihn durch die Wellen. Er senkte die Waffe und nickte. »Ich komme«, sagte er mit rauer Stimme. Sein Hals fühlte sich wund und geschwollen an. Langsam folgte er der Taratze, die sehr aufgeregt wirkte.
Wieder wurde er in das Nest des Eluu gebracht.
Er fand Traysi auf ihrem Lager vor und begriff sofort, dass die Lordhexe im Sterben lag. Ihr Gesicht war bleich und eingefallen. Sie zitterte am ganzen Körper, als habe sie Krämpfe. An ihrer Seite stand eine Taratze, die ihre Stirn mit einem feuchten Stofffetzen abtupfte.
»Rulfan?«, flüsterte die Hexe kraftlos.
Rulfan trat an ihr Lager. »Ich bin hier, Traysi.«
»Rulfan… Ich brauche Medizin… aus dem Bunker…«
»Ich kann versuchen, welche zu besorgen.« Rulfan sagte es ausdruckslos. Traysi würde nicht so lange durchhalten. Er berührte mit der freien Hand ihre Stirn. Sie war eiskalt, obwohl mehrere Felle auf Traysis Körper lagen. Waren das die Nachwirkungen ihrer schrecklichen Verletzungen?
Rulfan wandte sich zum Gehen. Er wusste nicht, ob er Traysis Leid ertragen konnte. Er hatte genug mit sich selbst zu tun.
»Warte…« Traysis Stimme war dünn. Die Stimme eines verängstigten Mädchens. »Geh nicht… Weißt du… du erinnerst mich an meinen Vater…«
Rulfan schwieg, aber er blieb stehen.
»Komm her«, bettelte Traysi. »Traysi verrät dir, was die anderen denken. Traysi sagt alles und dann gehen wir hübsche Sachen aussuchen…«
Rulfan trat zu ihr. Ihre wirren Reden ängstigten ihn nicht. Sie war dem Tod näher als dem Leben.
»Nimm meine Hand«, flüsterte Traysi. »Bitte. Wenn ich sterbe, will ich einen Menschen bei mir haben. Keine Ratte.« Sie machte eine schwache Geste mit den Fingern und die beiden Taratzen zogen sich in die Schatten des unterirdischen Tunnels zurück.
Rulfan legte den Säbel ab und nahm ihre Hände in seine. Einst musste Traysi eine wirklich schöne Frau gewesen sein, auf ihre eigene Art beeindruckend. Was hatte sie sich alles erhofft? Und wohin hatte der Fluss der Zeit sie gerissen?
Traysi schluchzte. »Traysi hat Angst. Twaysi Angst.« Sie verfiel mehr und mehr in einen Lorddialekt, der Rulfan fremd war. Vermutlich war es der ihres Stammes, bei dem sie aufgewachsen war.
»Sterben ist nicht schwer«, flüsterte Rulfan. Er hätte gerne etwas Tröstendes gesagt, aber in ihm war alles leer. Er konnte
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