257 - Die Spur der Schatten
wohin mit sich, hatte nicht die geringste Vorstellung, was er jetzt noch hätte tun können. Alles hier erinnerte ihn in schmerzhafter Weise an Sir Leonard Gabriels verfluchtes Dorf auf Guernsey!
Matt wollte es nicht glauben, wollte an einen Albtraum glauben, hoffte jeden Moment aufzuwachen. Selbst für ihn, der doch so viel hatte erleben müssen, war das Grauen unfassbar, das sich ihm hier bot.
Schließlich gelangte er an das Grundstück eines großen Hauses - ungefähr das zwanzigste, das er an diesem Morgen betrat. Es war relativ neu, und hinter ihm, auf einer eingezäunten, weitläufigen Weide, bewachten zwei große Hirtenhunde etwa sechzig Schafe. Sie knurrten ihn an und fletschten die Zähne. Sein Begleiter knurrte zurück, und bald kläfften die Hunde sich gegenseitig an.
Im Hof stieß Matt auf einen Brunnen. Daneben lag unter einer aufgespannten Plane auf ein paar Holzböcken ein neues Ruderboot, halbfertig.
Hinter der offenen Tür einer Art Werkstatt fand Matt stapelweise Felle. Auch die Tür zum Haus selbst stand offen. Er betrat es, gelangte über einen kleinen Flur in einen weitläufigen Raum. Dort fand er zwei Spinnräder und einen großen Webstuhl.
An einem kleinen Tisch neben dem Webstuhl standen ein Becher und ein Krug mit einer nach schalem Bier riechenden Flüssigkeit. Ein aufgeschlagenes Buch lag daneben und ein Stift. Die Kerze auf dem Tisch war längst niedergebrannt. In einem Lehnstuhl am Tisch saß eine Frau aus Stein. Sie runzelte die versteinerte Stirn und schien gerade im Begriff gewesen zu sein, aufzustehen, als ihr das Entsetzliche widerfahren war.
»Was tust du hier?« Matt Drax beugte sich über sie. Ihre vertrauten Gesichtszüge verschwammen hinter dem Schleier seiner Tränen. »Was ist hier geschehen, Jenny…?« Vor der steinernen Frau sackte er in die Knie. »Sag mir, was hier geschehen ist, Canucklehead (Jennys Spitzname bei der US Air Force), du tapferes Mädchen. Sag mir, dass ich nur träume, bitte…« Tränen erstickten seine Stimme. Er beugte sich nach vorn und bohrte die Stirn in seine Fäuste. Er weinte lange.
Auch an Ann dachte er. Er rechnete fest damit, sie irgendwo hier in diesem neuen Haus zu finden. Wo sonst? Und genau das war es, was ihn festhielt vor der versteinerten Frau, die einmal Jennifer Jensen gewesen war. Er wollte Ann nicht finden. Er wollte seine Tochter nicht so sehen, wie er Jenny jetzt sah, wie er Pieroo hatte sehen müssen. Er wollte nicht in das geliebte und ersehnte Gesicht blicken - nicht, wenn es aus Stein war.
Also blieb er auf den Knien vor seiner ehemaligen Kameradin hocken, vor der Mutter seiner Tochter. Der Hirtenhund streckte sich neben ihm aus und winselte kläglich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stand Matt Drax dann aber doch auf. Mit steifen, schwerfälligen Bewegungen schlurfte er durch das Haus. Wie ein Greis fühlte er sich, wie ein Greis kurz vor seinem Tod.
Er durchsuchte jedes Zimmer. Der Hund begleitete ihn. Er fand ein Bett - zu klein für einen Erwachsenen. Er fand Bilder an der Wand, von Kinderhand gemalt. Eines erschien im merkwürdig fremd in dieser Umgebung. Er beugte sich vor und betrachtete es.
Zwei Fluggeräte waren darauf abgebildet; sie erinnerten entfernt an Düsenjets. In einem saß ein blonder Pilot, in dem anderen eine blonde Pilotin. Im Hintergrund stand eine Art Stern mit einem langen Feuerschweif. Mama und Papa , stand in Kinderschrift unter dem Bild geschrieben, und am rechten unteren Rand ein Name: Ann.
Matt sank auf einen kleinen Stuhl vor einer Art Pult. Er zitterte. Lange saß er so, zusammengesunken und weinend, bis sein Blick auf lauter lose Blätter fiel, voll geschrieben mit einer Handschrift, wie Kinder sie benutzen: Diktate, Wortübungen, kleinere Aufsätze. Er las: Mein Vater, der Pilot aus der vergangenen Zeit…
Mehr als die Überschrift konnte er nicht lesen. Zu sehr schmerzte es ihn, Worte von Ann zu sehen, sie selbst aber nicht. Mit zitternden Händen faltete er das Blatt zusammen und steckte es in die Manteltasche.
Er stand auf. In einer Ecke neben dem Kinderbett stand eine Truhe. Er öffnete sie. Sie war voller Kleider in Kindergröße.
Dann wankte er aus dem Raum, schaute in die anderen Zimmer, sah aus jedem Fenster, doch seine Tochter Ann fand er nirgends.
Zurück am Webstuhl bei der steinernen Jenny fiel ihm auf, dass auch die aufgeschlagenen Seiten des Buches auf dem Tisch beschrieben waren. Er nahm das Buch hoch - es war Jenny Jensens Handschrift. Er blätterte zurück - ein
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