257 - Die Spur der Schatten
Tagebuch. Er blätterte vorwärts - die zuerst aufgeschlagene Seite war nicht die letzte beschriftete Seite. Der Luftzug musste Dutzende von Seiten zurückgeblättert haben, als Matt das Haus betreten hatte.
Der Mann aus der Vergangenheit ließ sich vor der versteinerten Mutter seiner Tochter auf dem Boden nieder. Er schlug eine Seite mit einem Eintrag auf, der ein knappes Jahr alt war. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und las: Gestern hat es zum ersten Mal in diesem Jahr geschneit. Der Winter bricht an. Es ist der dritte Winter, seit wir an dieser Küste gelandet, seit wir in dieses schöne Dorf gekommen sind. Wenn ich morgens aufstehe und zum Brunnen gehe, um Wasser zu holen, ist es mir…
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Schwarze Tentakel aus Nebel schlängelten sich durch den Eingang des Rundzeltes, drangen ins Halbdunkle des Inneren ein, und in Aruulas Gedanken. Angst schnürte ihr die Luft ab, sie erwachte und setzte sich auf.
Nur ein Traumbild!
Und trotzdem… etwas Fremdes war gegenwärtig, etwas Böses. Kalt und flirrend fühlte es sich an. »Spürst du das auch, Maddrax?«, flüsterte Aruula. Sie tastete nach seinem Körper - doch sein Lager war leer, die Felle kalt.
Sie sprang auf. »Maddrax!« Erschrocken stürzte sie aus dem Zelt - und wich sofort wieder entsetzt zurück: Schwarze Nebel schienen hinter einem Vorhang aus Schneeflocken zu wallen. Seine Ausläufer mieden die Feuerstelle, als wäre der Nebel ein lebendiges Wesen.
Aruula bückte sich nach ihrem Schwert, lauschte. Mächtige Sinneseindrücke stürmten auf sie ein: Gedanken wie aus einem Gletscher, Gedanken der Vernichtung und des Todes. Und eines in dieser Kombination irrealen Gefühls von… Sättigung. Einen Atemzug lang bedrängte sie das Bild eines Schattens, der auf schreiende Menschen fiel, und als er vorüber geglitten war, blieben nur steinerne Gestalten zurück.
»Maddrax!« Die Nähe des Todes und des Grauens stürzte Aruula beinahe in Panik. »Maddrax!«
Wo steckte ihr Gefährte? Hatten Dämonen ihn geholt? Hatte das Böse ihn verschlungen? Gedanken und Bilder jagten durch ihren Kopf; kaum konnte sie noch Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden. Sie warf sich ihren Mantel über die Schultern und packte ihr Schwert mit beiden Händen. Um von der grauenhaften Gegenwart des Fremden nicht in die Knie gezwungen zu werden, musste sie handeln. Jetzt! Wieder stürzte sie aus dem Rundzelt, diesmal mit erhobenem Schwert. »Maddrax!«
Starker Seewind aus Osten wehte ihr Schneeflocken ins Gesicht. Die tentakelgleichen Schwaden schwarzen Nebels waren nicht mehr zu sehen, aber sie spürte sie noch mit allen Sinnen.
Von Grauen gepackt rannte Aruula los, lief zwischen die Bäume, kämpfte sich den Hang hinauf. Im Schnee fand sie die letzten Umrisse von Maddrax' vergehenden Spuren. Sie folgte ihnen… bis eine Gestalt zwischen den verschneiten Hügeln erschien.
***
Jennifer Jensens Tagebuch
Gestern hat es zum ersten Mal in diesem Jahr geschneit. Der Winter bricht an. Es ist der dritte Winter, seit wir an dieser Küste gelandet, seit wir in dieses schöne Dorf gekommen sind.
Wenn ich morgens aufstehe und zum Brunnen gehe, um Wasser zu holen, ist es mir, als würde ich das schon mein Leben lang tun, als hätte ich nie Wasserhähne und Duschköpfe benutzt. Wenn ich ein Lamm schlachte oder einen der Vögel rupfe, die Pieroo von der Jagd mit nach Hause gebracht hat, denke ich nicht mehr an die Zeit, als ich noch in Supermärkten einkaufen ging oder mich in Imbissbuden verköstigte. Wenn ich deine oder Pieroos Kleider wasche und flicke, erscheint mir meine Vergangenheit als Pilotin der US Air Force wie die Erinnerung an das Leben einer fremden Frau.
Nein, nicht wehmütig schreibe ich das nieder, sondern glücklich. Ich bin angekommen in meinem neuen Leben. Wir sind angekommen: Pieroo, ich und du, mein Kind.
Wie du dich verändert hast in diesen drei Jahren! Du kannst lesen und schreiben und im Rechnen bist du schon besser als Pieroo. Von ihm hast du fischen und den Umgang mit dem Jagdbogen gelernt. Du kannst Ziegen melken und Enten schlachten. Du bist noch keine zehn Jahre alt und scheust dich nicht, allein mit zwei großen Hirtenhunden eine Herde von sechzig Schafen zu hüten.
So viele Tiere nennen wir inzwischen unser eigen. Pieroo besitzt ein kleines Fischerboot und ist nach Jaims der zweite Mann im Dorf geworden. Manchmal, wenn er von der See oder der Jagd nach Hause kommt, streicht er mir über den Bauch und sieht mich fragend an. Auch du liegst mir
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