021 - Blutorgie in der Leichengrube
Lance O'Neill bewegte wie schnüffelnd seine fettglänzenden Nasenflügel. Er war mit den Gerüchen seines Lokals vertraut, aber plötzlich schien es ihm so, als würde er neben dem Rauch, Schweiß und Biergestank noch etwas anderes, etwas ihn zutiefst Erschreckendes riechen: Blut.
Er blickte unwillkürlich zu der niedrigen, von jahrhundertealten Eichenbalken gestützten Decke empor. Clara und der Fremde befanden sich direkt über ihm, in einem der drei erst kürzlich renovierten Zimmer, und ahnten nicht, was sie erwartete.
O'Neill grinste düster. Er glaubte plötzlich zu wissen, wie sich der Blutgeruch erklären ließ. Die Fantasie war mit ihm durchgegangen, in Erwartung der Schlägerei, die bald stattfinden würde. Dafür garantierten die Wut und die Erbitterung von Sean Bloom und seinen drei Söhnen. Sie würden und konnten es nicht dulden, daß die erst sechzehnjährige Clara sich mit einem Fremden einließ. Trotzdem: Außer ein paar Schrammen und einer blutenden Nase waren schwerlich ernsthafte Blessuren zu erwarten. Der Fremde würde einen Denkzettel bekommen, und Clara würde begreifen, daß es sich für ein Mädchen aus Cruelymoe nicht ziemte, sich wie ein Flittchen zu benehmen. Schließlich war sie eine Bloom, Seans einzige Tochter.
Die Kneipentür öffnete sich, und die Blooms kamen herein. Der alte Bloom hatte sein Gewehr mitgebracht, eine doppelläufige Flinte, die Sammler- und Museumswert besaß. Seine drei kräftigen, düster dreinblickenden Söhne waren mit dicken Holzknüppeln bewaffnet.
Der Alte trat an den Tresen und fragte laut: »Wo ist das Schwein?« Er hielt es für wichtig, sich in Szene zu setzen. Alle Gäste sollten sehen und hören, wie es jemandem erging, der sich an Clara vergriff.
»Oben«, sagte O'Neill knapp.
Die Männer aus Cruelymoe neigten nicht zu eleganten Sentenzen, aber sie wußten um so genauer einen ungeschriebenen Ehrenkodex einzuhalten.
»Vier Schnäpse!« sagte Bloom.
Die Söhne folgten ihm an den Tresen.
Im Lokal war es still geworden. Die Blooms hatten es nicht nötig, sich Mut anzutrinken, aber es entsprach ihrer Auffassung von Höflichkeit, dem Wirt etwas zukommen zu lassen. Schließlich war es O'Neill gewesen, der sie von Claras Fehltritt in Kenntnis gesetzt hatte.
O'Neill füllte die Gläser. Er musterte die Gesichter der Blooms mit nachdenklichem Ernst und hielt es für angezeigt, eine kleine Warnung anzubringen. »Zieht ihm nicht gleich das Fell über die Ohren. Vergeßt nicht, daß Clara zu ihm geschlichen ist, offenbar freiwillig, durch die Hintertür.«
Sean Bloom kippte den Inhalt seines Glases hinab, die Söhne folgten seinem Beispiel. Bloom schob sein leeres Glas erneut dem Wirt hin. »Noch einen!« krächzte er und erkundigte sich dann barsch: »Wie heißt der Kerl? Woher kommt er?«
»Ein Engländer, nehme ich an.«
Bloom spuckte wütend aus. »Ein gottverdammter Fremder! Warum lassen uns diese aufdringlichen Burschen nicht in Frieden?«
Einige Gäste nickten grimmig und zustimmend. O'Neill nickte mit, obwohl er als einziger Dorfbewohner dafür plädierte, dem Tourismus auch in Cruelymoe eine Chance zu geben. Deshalb hatte er damit begonnen, in seiner Kneipe eine Fremdenzimmeretage einzurichten. Er hoffte, daß Cruelymoe von dem Hang vieler Reisender nach wildromantischen, bizarren Plätzen profitieren würde, aber er wußte auch, mit welcher Abneigung die Ortsbewohner allen Fremden begegneten. Fremdenhaß war in Cruelymoe Tradition. Dieser Haß war in vielen Jahrhunderten genährt und von Generation zu Generation weitergegeben worden. Er erklärte sich vor allem daraus, daß früher nur Zöllner, Steuereintreiber und Soldatenwerber ins Land gekommen waren.
»Laß uns gehen, Vater«, sagte Sheldon Bloom.
Er war der älteste der drei Söhne, und er haßte es, den Kneipengästen ein billiges Schauspiel zu bieten. Das Gespräch am Tresen war verlorene Zeit für ihn. Er wollte rasch zur Sache kommen. Seine Schwester Clara tat ihm leid. Er konnte verstehen, daß sie sich zu einem Fremden hingezogen fühlte, denn das Jungmännerangebot des Ortes zeichnete sich nicht gerade durch Charme und Attraktivität aus. Aber Clara hätte wissen müssen, welche Schande sie der Familie durch ihr Verhalten zufügte.
Sean Bloom nickte, warf einen bösen Blick zur rußgeschwärzten Decke empor und sagte im Befehlston: »Kommt!«
Er näherte sich mit seinen Söhnen der schmalen Tür, hinter der die nach oben führende Holztreppe lag. Die Kneipengäste – gut ein
Weitere Kostenlose Bücher