257 - Die Spur der Schatten
ihr und Jed viel Glück. Dann ritt der kleine Tross durch das Burgtor und folgte dem Weg nach Osten. Ein kalter Nordostwind trieb dunkle Wolken in den Himmel. Es würde bald neuen Schnee geben.
Und tatsächlich: Als Matt und Aruula am späten Abend aus dem Fenster ihres behaglich eingerichteten Zimmers nach draußen blickten, lag der Schnee im Burghof bereits knöchelhoch. Hoffentlich, so dachte Matt, würde das ihre Abreise am nächsten Morgen nicht erneut verzögern.
Sie gingen zu Bett, und endlich brachte Matthew Drax zur Sprache, was ihn - und wohl auch seine Geliebte - seit dem Besuch bei der alten Gyrolla beschäftigte.
»Was hältst du von diesem Traumbild?«, fragte er Aruula, die in seinem Arm lag. »Jenny Jensen und Ann lösen sich auf… was mag das zu bedeuten haben?«
»Ich habe für mich selbst eine Deutung gefunden«, sagte Aruula. »Willst du sie hören?«
Matt stutzte. Wenn sie erst nachfragte, würde es ihm sicher nicht gefallen. Trotzdem: »Ja, natürlich. Raus mit der Sprache!«
»Ich sehe die beiden«, fuhr Aruula fort, »schon lange als Geister aus deiner Vergangenheit, die dich nicht zur Ruhe kommen lassen. Wenn du dich ihnen endlich stellst, wirst du deinen Frieden finden, und sie verfolgen dich nicht länger.«
Matt begriff. Aruula setzte das Verschwinden der beiden mit seinem Vergessen gleich. Aber würde er das tatsächlich je können: seine Tochter vergessen ? Er hatte erhebliche Zweifel.
Aruula schmiegte sich an ihn. »Du wirst sehen: Nach unserer Rückkehr wird alles besser werden. Du wirst im Reinen sein mit dir selbst, und wir können uns endlich um unsere Zukunft kümmern.«
Matthew hoffte, dass sie richtig lag. »Dann brechen wir also morgen auf?«, fragte er. »Ohne weitere Verzögerungen?«
»Das habe ich dir versprochen, und ich bin nicht die Frau, die ihre Versprechen bricht, Maddrax. Außerdem hast du Gyrolla gehört: Was du dir vorgenommen hast, tue schnell und ohne Zögern! Also sollten wir nicht länger warten. Aber danach muss es ein für alle Mal vorbei sein mit unserem Vagabundenleben.«
»Das habe ich dir bereits versprochen.«
Aruula richtete sich in den Fellen auf, kniete sich über ihn und nahm seinen Kopf zwischen die Hände. »Dann versprich es mir noch einmal.«
»Ich verspreche es.«
»Versprich mir, dass wir das Land bewohnen werden, das Jed uns versprochen hat.« Tief sah sie ihm in die Augen. »Versprich mir, dass wir ein Haus bauen, das Land bestellen, Shiips züchten und Kinder zeugen werden.«
»Versprochen.« Er hätte ihr in diesem Moment auch versprochen, sie auf Händen einmal am Tag über alle Hügel zu tragen und anschließend den Abwasch zu machen, so froh war er über ihr Einlenken.
»Gut«, sagte Aruula und ließ sich auf ihn niedersinken. »Und jetzt küss mich… für den Anfang…«
***
Aus Jennifer Jensens Tagebuch
Gestern Abend, nach drei Tagen, hörte der Regen endlich auf, und heute Morgen bin ich im hohen Gras einer Lichtung aufgewacht. Ein wunderschönes Hügelland haben wir gestern Abend erreicht. Ich vermute, dass es zum Gebirgszug der Cotswold Hills gehört. Du schläfst noch, Pieroos Lager ist leer. Er muss schon lange vor Sonnenaufgang zur Jagd aufgebrochen sein, denn seine Felle sind kalt. Treuer Pieroo!
Du murmelst im Schlaf, und jetzt steckst du dir den Daumen in den Mund. Mein schönes Töchterchen! Wozu sollte ich noch leben, wenn ich dich nicht hätte?
Im Grunde stellte das Schicksal die Weichen für deine Existenz schon im Frühjahr des Jahres 2006, meine geliebte Ann. Damals trat ich meinen Dienst als Pilotin der US Air Force in der Luftwaffenbasis von Berlin Köpenick an. Wenn ich meiner Erinnerung und meinem Gefühl trauen dürfte, würde ich sagen: Das ist elf Jahre her. Doch wenn ich an all das denke, was ich seitdem erlebt habe, wenn ich an die Ruinen von Berlin und London denke und an die vielen mutierten Tiere und Menschen, denen ich begegnet bin, dann muss ich der Realität ins Auge sehen: Es ist 515 Jahre her.
Damals stieß ich zum Geschwader deines Vaters. Doch was wirst du schon mit solchen fremdartigen Begriffen anfangen können? Geschwader, US Army, Luftwaffenbasis? All das sind leere Erinnerungen, Chiffren einer untergegangenen Epoche; all das gibt es nicht mehr.
Wir flogen gemeinsam, wir besuchten Lehrgänge, wir trainierten Luftkampf, wir erkundeten Berlin und seine Umgebung. Die war damals noch sehr schön - viele Wälder und Seen. Ich hatte Heimweh nach Kanada, nach meiner Stadt, nach
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