261 - Ein falscher Engel
versuche einen Blick ins Innere zu erhaschen, ehe die Plane wieder zufällt. Mein Blick trifft den eines Mannes; seine Augen funkeln.
Es dauert nur wenige Sekunden und die Wache kommt wieder heraus. Sie hält mir die Plane auf, ein einfaches Kopfnicken zeigt an, dass ich hineingehen soll. Den Zettel bekomme ich nicht zurück.
Das Zelt ist erleuchtet. Ich höre das schwache Summen eines Generators, irgendwo. Drei Menschen stehen vor mir, zwei, die der Bande entgegengetreten sind, der dritte ist auch mir bekannt. Sie mustern mich, ich mustere sie. Wir kennen uns, und doch nicht mehr.
Stille. Von draußen die Geräusche des Lagerlebens.
***
»Warum bist du gekommen?« fragt sie.
Ich zucke mit den Schultern und wende den Blick ab. »Weil ich sonst nichts mehr habe.«
Ein Schnauben. »Du hast es doch selbst weggeschmissen.«
Einen Moment frage ich mich, wovon sie spricht, dann fällt mir ein, dass niemand es wirklich weiß. Manchmal frage ich mich selbst, ob ich mir die Erinnerungen daran nur einbilde, mich selbst mit ihnen schütze, und doch, ich träume von den Schreien und dem Ende.
Sehe die starren Blicke in allen Einzelheiten. Sie alle wissen, was sie wissen sollten. Und ich? Ich muss damit leben. In ihren Augen bin ich ein Deserteur. Werde es für immer sein. Auf einmal spüre ich wieder diese unendliche Müdigkeit, die mich erfasst, wenn ich an diese Zeit von damals denke.
Ich betrachte die Zeltwände um mich herum, es ist die gleiche Farbe wie damals. Unbestimmt, je nach Stimmung hoffnungsvoll oder todbringend. Warum war ich wirklich gekommen?
Weil es stimmte, wohin sollte ich sonst gehen? Das Militär ist einmal unser aller Zuhause gewesen, vielleicht könnte es das wieder werden. Ich schaue zu den dreien zurück, ich schaue Alex an.
»Warum hast du mir sonst den Zettel gegeben? Wenn ihr nur alte Sachen aufwärmen wollt, kann ich wieder gehen. Wenn ihr mir nicht mehr vertrauen könnt, kann ich auch wieder gehen. Ich bin es leid, mich immer wieder rechtfertigen zu müssen. Immer das gleiche zu hören.« Ich fahre mir mit meiner Hand durch die Haare und merke, dass ich sie mal wieder waschen müsste.
»Dann hättest du nicht abhauen dürfen. Du hättest –«
»Sie sind alle tot.« Ich flüstere fast.
»Wie bitte?«
Wieder Alex.
»Sie sind alle tot. Ein Hinterhalt. Meine Einheit wurde vernichtet.«
»Der Feind –«
»Verrat.«
Ich starre an ihnen vorbei. Ich bin wieder auf dem Schlachtfeld.
Der Moment, als klar wird, dass nur ein Insider, ein Verräter dafür verantwortlich sein kann. Meine Männer, die trotz allem weitermachen und Feind um Feind niedermähen. Die zerstörten Funkeinrichtungen. Die Schreie. Der rote Himmel, trüb, verdeckt vom aufgewirbelten Sand. Das Rattern der Maschinen und der Waffen. Die Gewissheit, dass niemand kommen wird. Das rote Blut, das auf den schwarzen Uniformen nicht sichtbar ist.
Ich weiß bis heute nicht, wie ich es am Ende unbeschadet heraus geschafft habe, doch irgendwann stand ich in meinem Zelt. Zerschrammt, die Uniform zerrissen, die Schmerzen noch immer vom Adrenalin weggeblasen. Ich wusste, dass niemand meiner Version der Dinge Glauben schenken würde. Meine Einheit und ich waren verhasst. In ihren Augen würde ich der Verräter sein. Ich suchte alles zusammen, was ich gebrauchen und tragen konnte, und machte mich davon. Ich nahm keine Rache und sie suchten mich nicht.
***
Die Vergangenheit wird zum Jetzt. Ich schaue die drei an. Sie waren einst meine Freunde, zwei vor dem Krieg, der dritte währenddessen. Doch sie würden nie verstehen. Sicherlich, auch sie hatten ihre Dämonen, ihre Schatten, ihre Ängste. Aber sie wurden nicht von dem verraten, dem sie vertraut hatten. Ich kann sehen, wie sie meinen Namen rufen, doch ich höre sie nicht. Alles erscheint mir auf einmal so unwirklich. Das Zelt, der rote Schein des Himmels, der alles durchdringt. Die Lampe, die leicht an der Decke schwankt. Das Summen eines Generators in der Ferne, der an einen Bienenschwarm erinnert. Die schwarze Erde unter unseren Füßen. Die drei Menschen vor mir, die mir einmal nahe gewesen sind und jetzt nur noch fremd erscheinen. Ihre Uniformen sind nicht mehr schwarz, wie sie vor Jahren einmal waren.
Ich schüttele den Kopf, drehe mich um und gehe. Sie halten mich nicht auf und ich drehe mich nicht um. Außerhalb des Zeltes schaue ich noch einmal dem Himmel entgegen, rot und unerbittlich. Ich atme ein. Die Welt verwischt in meinem Rücken. Ich trage die Uniform von damals,
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