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Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)

Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)

Titel: Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoine Rouaud
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1
    LAVENDELDUFT
    In jedem Leben kommt der Tag,
    an dem man sich entscheiden muss.
    Wer war ich und wer will ich sein.
    Wie wird dereinst das Ende mein.
    Es ist mein eigener Entschluss,
    dessen ich stolz oder reuig sein mag.

    E s it allae, Es it alle en, Es it allarae.
    Was Ihr wart, was Ihr seid, was Ihr werdet. So lautete der Wahlspruch der Hafenstadt. Der tiefere Sinn spielte schon längst keine Rolle mehr, doch selbst der unbedarfteste Reisende kannte den Leitsatz, selbst wenn er noch niemals dort gewesen war. Masalia, die im tiefen Süden der alten Königreiche gelegene Stadt, war schon immer die Heimstätte aller denkbaren Möglichkeiten gewesen.
    Das hatte vor allem mit ihrer Lage zu tun. Hier, am Ende der Welt und viele Hundert Meilen entfernt von der kaiserlichen Hauptstadt, galt sie als letzte Bastion der Zivilisation vor dem Westlichen Meer, das noch nie ein Mensch erkundet hatte. Von Masalias Hafen aus wurde reger Handel getrieben; viele Kaufmannsschiffe verkehrten zwischen den Südinseln und den Städten im Norden. Auch ihre außergewöhnliche Geschichte trug zu ihrer Besonderheit bei. Die Stadt war so oft und von so vielen Königreichen belagert worden, dass sie keine architektonische Struktur mehr besaß. Jedes Viertel trug die Spuren seiner jeweiligen Besatzer, angefangen bei den hohen, mit Drachenhörnern geschmückten Türmen der Aztene-Zeit bis hin zu den stolzen Häusern der Dynastie Cagliere mit ihren blumengeschmückten Balkonen. Nicht zu vergessen die drei Kathedralen des Fangol-Ordens, von denen zwei auf den noch rauchenden Trümmern heidnischer Tempel errichtet worden waren. In dieser Stadt spielte es keine Rolle, woher man kam, wer man war und was später aus einem wurde. Masalia bestand aus der Essenz der Geschichte aller alten Königreiche.
    »Bist du reich oder arm, bist du schwach oder stark oder musst vor der Welt du fliehen – hier, im Schmelztiegel der Völker, findest du Zuflucht«, pflegten die Leute zu sagen.
    Schon die bloße Erwähnung des Namens Masalia rief bei vielen Menschen schwärmerische Gefühle hervor. Daran konnte auch der heftige Regen nichts ändern, der auf die roten Ziegeldächer prasselte, ebenso wenig wie der zähe Schlamm in den engen Gassen. Und auch die schäbige Steinfassade eines seltsamen Hauses, aus dessen geöffneten Fenstern der heisere Gesang Betrunkener drang, schmälerte den Ruf Masalias als Stadt der Träume nie.
    »Bist du ganz sicher, dass wir hier richtig sind?«, erkundigte sich eine raue Stimme.
    Unter ihrer weiten Kapuze hob Viola den Kopf und betrachtete die Tür der Taverne. Regentropfen perlten über die Gläser ihrer runden Brille und verwischten die Umrisse der hell erleuchteten Fenster. Sie nickte kurz und ging weiter. Ihre Stiefel schmatzten in der dicken Schlammschicht. Ihr schlanker Schatten zeichnete sich auf dem Holz der Tür ab und wurde kurz darauf von dem des Mannes hinter ihr überlagert. Als sie die Hand auf den schweren Türknauf legen wollte, zögerte sie kurz. Regenwasser benetzte das schwarze, vom Rost angefressene Metall.
    … musst vor der Welt du fliehen …
    Es gab kein Zurück mehr. Ihr Mund fühlte sich entsetzlich trocken an, doch es gab kein Zurück mehr. Der Mann, den sie suchte, befand sich in dieser Taverne. Das Räuspern ihres Begleiters riss sie aus ihren Gedanken. Hastig drückte sie die Klinke hinunter.
    … hier findest du Zuflucht …
    Beißende Rauchschwaden wogten bis zur Decke empor. Grölendes Lachen und laute Stimmen übertönten das Prasseln des Regens. Ein zuckender Blitz warf einen flüchtigen Schein auf die breiten Schultern und den kahlen Schädel des Mannes hinter ihr. Rasch schloss er die Tür hinter sich und folgte Viola. Als er in das Licht der Öllampen trat, erschrak ein Schankmädchen so sehr, dass es beinahe ein Tablett hätte fallen lassen. Verblüfft betrachtete sie die Tätowierungen, die sich anmutig über die dunkle Gesichtshaut des Mannes schlängelten. Sekundenlang hielt er ihrem Blick stand, ehe sie sich abwandte und die Gäste an einem nahen Tisch bediente. Die alten Kaufleute in ihrer dunklen Kleidung applaudierten, als sie endlich ihre Getränke bekamen.
    Die Zeiten hatten sich geändert. Nâagas flößten den Leuten kaum noch Furcht ein. Was bedeutete schon ein Wilder in dieser Stadt? Erst recht hier, wo der Abschaum verkehrte? Das Kaiserreich hatte noch Wert auf zivilisierte Menschen gelegt, die Republik jedoch brüstete sich damit, jedermann die Tore zu öffnen.
    Mit

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