261 - Ein falscher Engel
trennte er das Kästchen mit dem Bild vom Gürtel. Es polterte zu Boden, während die Mörderin zusammenzuckte und ihr Gesicht schmerzvoll verzog.
Trotzdem wirbelte sie herum. Der Mann mit dem Treffer war nur ein vermeintlicher Glückspilz, weil er nicht einmal mehr die Zeit bekam, sich richtig darüber zu freuen. Er starb mit durchschnittener Kehle.
Ninian bewegte sich unheimlich schnell. Seit dem Zeitpunkt ihres Eindringens in den Raum waren erst dreißig Sekunden vergangen.
Bei all dem Lärm waren die hämmernden Schritte, die sich von draußen näherten, nicht zu hören gewesen. Nun stürmte Rulfan in den Großen Saal. Er wich den Fliehenden aus, versuchte die Situation zu überblicken und achtete nicht auf Anges’ Blut, das den Boden im Eingangsbereich benetzte.
Als er Ninian erspähte und seine Richtung änderte, glitt er in der roten Lache aus und verlor das Gleichgewicht. Schwer schlug er auf den Rücken und glitt in dem vergossenen Blut direkt auf Ninian zu, die gleichzeitig zu ihm herumfuhr.
Es ging so schnell, dass sie das Flügelschwert nicht mehr wegziehen konnte. Rulfan schaffte es nur noch, sich seitlich zu drehen. Er schrie, als sich die Schwertspitze in seine Hüfte bohrte. Stoff riss, heißer Schmerz raste durch seinen gesamten Körper, Blut schoss hervor.
Ninian erstarrte. Mit offenem Mund stierte sie auf das Blut, das aus Rulfans Wunde strömte und sein Hemd tränkte. Das Schwert in ihrer Linken sank nach unten.
»Du… blutest ja«, flüsterte sie. »Das kann … nicht sein. Aynjels bluten nicht. Aynjels sind unverwundbar. Und allwissend. Du hast … nicht gewusst, dass du verletzt wirst. Du … du bist kein Aynjel, Rulfan!«
In diesem furchtbaren Augenblick stürzte Ninians Welt, die im Wesentlichen aus der Hoffnung auf ein besseres Leben im Licht ihres Aynjels bestanden hatte, wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
So viele Jahre hatte sie geopfert, um ihren Aynjel Rulfan zu finden.
Und nun, endlich am vermeintlichen Ziel, musste sie erkennen, dass es ein falscher Engel war.
Die Enttäuschung explodierte in Ninian wie die Deestyl in der Burg der Freesas und brachte sie fast um den Verstand.
Gab es überhaupt Aynjels? Oder war sie nur einer Lüge nachgehetzt, die ihr einst eine fremde Frau aufgeschwatzt hatte?
Ninian brüllte wie ein waidwundes Tier, während ihr Gesicht einen Ausdruck unendlicher Qual widerspiegelte. Alle ihre Hoffnungen und Träume schienen auf ewig dahin. Ihr Brüllen hörte sich wie das Krächzen eines Kolks an, wenn auch nicht halb so laut, und machte das Bild des Häufchens Elend, das da plötzlich stand, komplett.
Unvermittelt rannte Ninian los, setzte in zwei mächtigen Sätzen über Anges’ Leiche hinweg und verschwand in Richtung der Vorhalle. Noch lange hörte man ihre seltsamen Laute. Niemand wagte sie aufzuhalten.
Schluchzend brach Myrial über Rulfan zusammen.
***
18. Januar 2526
»… und möge Wudan sie alle an ihre Tafel holen«, beendete Rulfan seine Grabesrede vor der Grube, die sie mit Patric Pancis’ Hilfe im Wald unterhalb von Canduly Castle ausgehoben hatten.
»Es geschehe Wudans Wille«, intonierte die Trauergemeinde, die sich um das Grab versammelt hatte. Neben den Bewohnern der Burg gehörten auch Jed Stuart, Nimuee, Patric Pancis, Cris Crump sowie sieben Celtics von Jeds Leibwache dazu. Sie alle standen rund um die offene Grube bis zu den Knien im Schnee. Ihre Gesichtsausdrücke reichten von Schock über Betroffenheit bis hin zu tiefer Trauer. Jed und Patric hatten als Vertreter der alten Religion die Hände gefaltet.
Neben Pellam und zweien seiner Kinder galt es, noch drei weitere Bedienstete dem beinharten Boden zu übergeben. Ayrin und die Geschwister waren mit einem gemeinsamen Grab einverstanden.
Neun eilig gezimmerte Holzsärge standen fein säuberlich nebeneinander auf dem Widderkarren. Rulfan hätte gerne dabei geholfen, sie in das Grab zu senken, aber seine Hüftwunde ließ das noch nicht zu. Dank Cris Crumps Künsten war er aber, genau wie Arteer, der einen dicken Schulterverband trug, bereits wieder auf dem Wege der Besserung. Die Celtics übernahmen die ehrenvolle Aufgabe der Beerdigung.
Rulfan konnte sich kaum auf die Zeremonie konzentrieren, als die Männer in den hellgrünweiß gestreiften Hemden mit dem Kleeblatt auf der Brust die Särge in die Grube abließen. Immer wieder drehten sich seine Gedanken um diese unglaubliche Verrückte, die in die klirrende Winternacht entkommen war.
Gleich am nächsten Tag hatten
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