Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
261 - Ein falscher Engel

261 - Ein falscher Engel

Titel: 261 - Ein falscher Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Schwarz
Vom Netzwerk:
hier ankommst. Soll sie den ganzen Tag auf den Zinnen stehen und auf dich warten?
    Ein durchaus aparter Gedanke. Rulfan grinste. Er ging durch den Burghof zum Haupthaus, schüttelte den Schnee aus seinen Haaren, klopfte ihn sich vom Mantel und begrüßte Ayrin, die Hausherrin, die soeben resolut ihren Jüngsten, den dreizehnjährigen Turner, durch die Eingangshalle scheuchte, weil der sich anscheinend vor dem Arbeiten hatte drücken wollen.
    »Was soll bloß der Herr von uns denken?«, wies sie ihn mit steiler Zornesfalte auf der Stirn unter den noch immer schwarzen Haaren zurecht. »Dass wir einen Faulpelz großziehen?«
    Der schlanke Junge mit den Sommersprossen und den kurzen rötlichen Haaren grinste zuerst seine Mutter und dann Rulfan frech an.
    »Faul sein ist ein Zeichen großer Intelligenz«, dozierte er mit krächzender, immer wieder quietschender Stimme, die dem noch nicht ausgestandenen Stimmbruch geschuldet war. »Warum soll man selber arbeiten, wenn man das andere für sich machen lassen kann?«
    Ayrin wurde blass, blies die Backen auf, bückte sich und warf einen ihrer Schuhe nach dem Jungen, weil sie gerade nichts anderes zur Hand hatte. Turner bückte sich unter dem heransausenden Schuh hinweg und wieselte blitzschnell zur nächsten Tür hinaus, während sich ein breites Grinsen auf Rulfans Gesicht legte.
    »Ich fasse das nicht, Herr«, schnaufte Ayrin, und ihre Empörung wollte nicht abebben. »Wenn Ihr so gut sein und meinem Jungen diese ungehobelten Worte verzeihen wollt? Ich muss mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden. Er ist wohl zu viel mit Anges zusammen. Der setzt ihm diese Flausen in den Kopf. Ich verspreche, dass er nie wieder so mit euch reden wird, Herr.«
    »Ach, sei nicht zu streng mit ihm«, bat Rulfan. »Ich mag den Jungen sehr. In diesem Alter ist man eben so. Ich fühle mich in keiner Weise beleidigt.«
    Das schien Ayrin zu beruhigen. Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig. »Trotzdem geht das so nicht. In diesem Alter werden die Pfade geschlagen, auf denen man einmal geht. Da muss man höllisch aufpassen, dass man nicht die falschen erwischt.«
    Rulfan nickte. Wie wohl er sich bereits hier fühlte. Es war alles so herrlich normal und friedlich und bestätigte ihn in seinem Entschluss, sein altes Abenteurerleben aus Kampf, Blut, Gewalt und Tod hinter sich zu lassen und es gegen ein wesentlich langweiligeres als Burgherr über ein Stückchen Land einzutauschen. Es war ihm, trotz der leichten Distanz der Familie zu ihm, als gehöre er bereits zu ihr. Vielleicht war das ja demnächst sogar wirklich der Fall!
    Wie fühlt es sich wohl an, wenn ich Pellam Vater nenne?
    »Wo ist eigentlich deine Tochter, Ayrin?«, fragte Rulfan.
    »Welche meiner vier prächtigen Mädchen meint Ihr, Herr?«, fragte Ayrin scheinheilig, denn auch ihr war nicht verborgen geblieben, was sich zwischen Rulfan und Myrial anbahnte. »Clyro? Oder Alla? Oder Biffy? Sie sind gemeinsam draußen auf den Weiden, wo sie die Zugwidder füttern. Demnächst sind sie sicher wieder zurück.«
    »Ich meine Myrial«, brummte Rulfan. »Da sie für die Bewirtung der Gäste zuständig ist, muss ich einiges mit ihr besprechen. Demnächst wird uns Jed Stuart hier besuchen.«
    »König Stuart, hier in unserer Burg? Dann müssen wir noch schneller arbeiten, damit alles schön aussieht.« Ayrin war plötzlich ganz aufgeregt. »Ihr findet Myrial oben in ihren Räumen, Herr. Sie richtet sich bereits fürs Dinna her. Hm, ich weiß auch nicht, was mit dem Mädchen los ist. So oft wie in den letzten Tagen hat sie sich noch nie gebadet und geschminkt. Warum bloß will sie plötzlich so schön sein?«
    »Äh, ja…« Rulfans Herz klopfte plötzlich überlaut. Er verspürte einen Stich im Magen. »Dann geh ich jetzt mal hoch.«
    Minuten später klopfte Rulfan an die Tür der jungen Frau. »Hallo Myrial, bist du da?«
    Niemand antwortete. Rulfan öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Seine Blicke wanderten durch den Raum – und blieben an der halb geöffneten Badezimmertür hängen.
    Rulfan schluckte. Myrial stand, mit dem Rücken zu ihm und leicht nach vorne gebeugt, vor einem großen Spiegel und schminkte ihr Gesicht. Sie trug einen gelben Bademantel, der vorne leicht aufklaffte. Auf dem Kopf hatte sie einen mächtigen Turban, den sie aus einem Handtuch geschlungen hatte und der auch die Ohren bedeckte.
    Das war wohl der Grund, warum sie nicht auf sein Rufen geantwortet hatte. Als sie aufblickte, durchfuhr es ihn wie ein elektrischer Schlag.

Weitere Kostenlose Bücher