261 - Ein falscher Engel
Gedankens war.
»Untreue Tofane«, murmelte er vor sich hin. »Wäre echt nett von dir, wenn du ein bisschen öfters bei Papa Rulfan vorbeischauen würdest.«
Rulfan tat es weh, dass seine Lupa jetzt immer länger bei ihrem neuen Rudel blieb und mit diesem durch die Wälder streifte. Nur alle vier oder fünf Tage ließ sich die Lupa noch kurz bei ihm sehen, manchmal nur von weitem, so als wolle sie ihm zeigen, dass es ihr gut ging. Immerhin, vor zwei Tagen erst war Chira plötzlich vor Canduly Castle aufgetaucht, hatte sich streicheln lassen und den dicken Brocken rohes Wakudafleisch, den Rulfan ihr überlassen hatte, triumphierend in die Wälder geschleppt, wo der riesige weiße Lupa, das Alphatier des Rudels, auf sie wartete. Immer wenn Rulfan ihn sah, brachte das eine Saite in ihm zum Schwingen. Das Tier erinnerte ihn an seinen ersten tierischen Begleiter: an Wulf.
Als klar war, dass Chira ihren Instinkten folgen und er sie auf absehbare Zeit wohl für immer verlieren würde, hatte sich Rulfan nach Lays Tod von aller Welt verlassen gefühlt. Da erschien es ihm wie ein Geschenk Wudans, dass die schöne Myrial zu der Familie gehörte, die Canduly Castle für ihn verwaltete.
Natürlich hatte Nimuee recht. Es zog ihn fast magisch zu der jungen hübschen Frau hin, die jede Woche ihr Haar anders färbte.
Schwarz, gelb, sogar bläulich hatte es Rulfan schon gesehen. Doch das Kastanienrot, in dem er sie kennen gelernt hatte, gefiel ihm am allerbesten.
Myrial erwiderte seine Gefühle allem Anschein nach. Viel mehr als flüchtig-zärtliche Berührungen hatten sich allerdings noch nicht ergeben.
Es dämmerte bereits, als Rulfan ohne Zwischenfälle die Burg erreichte, die ihm Jed Stuart mitsamt den umliegenden Ländereien geschenkt hatte. Canduly Castle lag auf der Kuppe eines kaum bewaldeten Hügels. Verglichen mit anderen schottischen Burgen und Herrensitzen, die es zu Hunderten in den High- und Lowlands gab, war Canduly Castle eher klein, mit hohen Mauern, einigen Gebäuden im Innern und zwei Rundtürmen. Der Südturm war eingerüstet, denn die Ziegel der steil ansteigenden Dachkrone mussten dringend ausgebessert werden. Dem Albino stockte der Atem, als er eine Gestalt ohne Absicherung auf dem Dachrand über dem Gerüst herumturnen sah, während zwei andere gerade mit einem Flaschenzug einen länglichen Trog hochzogen; wahrscheinlich war er mit Dachziegeln gefüllt.
Anges , dachte Rulfan und leichter Zorn stieg in ihm hoch. Pellams zweiter Sohn war ein wahrer Draufgänger, der keine Angst kannte.
Dabei verwechselte der Siebzehnjährige allerdings schon mal Mut mit Leichtsinn. Zumal er überzeugt war, ein Liebling der Götter zu sein, über den sie allzeit ihre schützende Hand hielten. In Rulfans Zorn mischte sich allerdings auch ein wenig Bewunderung. Denn in Anges erkannte er sich selbst in jungen Jahren wieder.
Pellam, der Verwalter, ein grauhaariger Patriarch von hünenhaftem Äußerem, der gerade am Burgtor herum hämmerte, begrüßte Rulfan lächelnd und nahm ihm das Horsey ab, um es in den Ställen zu versorgen. Er bestand darauf, auch wenn Rulfan es lieber selbst getan hätte. Dass er Herr über die umliegenden Ländereien und deren Menschen war, hieß für Rulfan noch lange nicht, dass er es sich auf deren Kosten gut gehen ließ. Doch gegen Pellams freundliche Hartnäckigkeit kam er nicht an. Seufzend drückte er ihm die Zügel in die Hand und drehte sich um.
»Anges, pass bloß auf!«, brüllte er durch die wirbelnden Schneeflocken. »Ich möchte deine Mutter nicht weinen sehen, wenn dein zerschmetterter Körper auf dem Burghof liegt!«
»Passt schon, Herr!«, brüllte Anges zurück und winkte sogar noch heftig mit dem rechten Arm. »Ich bin schwindelfrei und möchte noch eine Reihe Ziegel austauschen, bevor ich nichts mehr sehe!«
»Lasst ihn machen, Herr«, sagte nun auch Pellam. »Er weiß schon, was er tut.«
Gerade das bezweifelte Rulfan. Aber er nickte nur ergeben. Solange die Verwalterfamilie gute Arbeit leistete, und das tat sie, wollte er ihr nicht unnötig dreinreden. Und dass sie ihn »Herr« nannten, musste er ebenfalls akzeptieren. Für ein vertrauliches »Rulfan« waren sie anscheinend noch nicht bereit.
Der Albino seufzte und sah sich um. Leichte Enttäuschung stieg in ihm hoch. Noch immer sah er Myrial nirgendwo. Warum war sie nicht da, um ihn zu begrüßen?
Dummkopf , hämmerte es irgendwo hinten in seinem Schädel. Sie hat schließlich auch Arbeit und kann nicht ahnen, wann du
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