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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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    Als ich im peitschenden Wind endlich vor dem großen alten Haus stand, zweifelte ich plötzlich, ob meine Entscheidung richtig war; denn nicht einmal ein Funke der Erinnerung glomm auf, nicht der Schimmer eines Bildes aus längst vergangenen Tagen erhellte das Dunkel, während ich, mit der einen Hand meinen Hut, mit der anderen meinen Umhang festhaltend, das düstere Gemäuer betrachtete.
    Vielleicht wäre es besser gewesen, nicht herzukommen. Gewiß, dies war das Haus, in dem ich zur Welt gekommen war, hier waren mein Vater und meine Vorfahren geboren, aber hatte ich denn überhaupt einen Anspruch auf dieses Haus und diese Familie, da ich mich noch nicht einmal der Jahre erinnern konnte, die ich hier verbracht hatte, und ebensowenig an die Menschen, die hier lebten?
    Die Menschen… Unschlüssig stand ich in dem immer heftiger werdenden Wind und lauschte der Droschke nach, die sich rasch entfernte. Was für Menschen waren das, die hier lebten? Wieso konnte ich mich ihrer nicht erinnern? Wie würden sie mich nach so langen Jahren der Abwesenheit aufnehmen? All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich mit kaltem Gesicht und kalten Händen vor dem ehrwürdigen alten Haus stand.
    Der Brief fiel mir ein. Ein Umschlag aus feinem Büttenpapier, mit einer Zwei-Penny-Marke, einer ›Victoria blue‹ frankiert. Er war an meine Mutter adressiert gewesen, und ich hatte ihn ihr, während sie schlief, ins Zimmer gelegt. Am Abend, als ich wieder zu ihr hinaufgegangen war, war der Brief nicht mehr da und meine Mutter hatte ihn mit keinem Wort erwähnt. Ich dachte mir, sie müsse wohl ihre Gründe für ihr Schweigen haben, und da sie zu jener Zeit sehr krank war, hatte ich aus Rücksicht auf sie keine Fragen gestellt.
    Ich fand den Brief eine Woche später wieder, als ich nach der Beerdigung ihre Sachen ordnete. Warum sie ihn aufgehoben hatte, werde ich nie erfahren; aber ich weiß heute, warum sie mit mir über seinen Inhalt nicht sprechen wollte. An jenem stürmischen, wolkenverhangenen Tag jedoch, als ich vor Pemberton Hurst aus der Droschke stieg, konnte ich nicht ahnen, auf welch sonderbaren und schweren Weg der Brief mich führen würde.
    Hätte ich es gewußt, so wäre ich niemals nach Pemberton Hurst zurückgekehrt.
    Auch so kostete mich diese Rückkehr viel Mut, denn viel hatte ich nicht in Händen: einen verwirrenden Brief und undeutliche Erinnerungen an das Wenige, was meine Mutter über diesen Ort gesagt hatte. Während jetzt mein Blick auf das Herrenhaus gerichtet war, sah ich zugleich meine Mutter vor mir, und auf ihrem Gesicht lag jener merkwürdig forschende Ausdruck, mit dem sie mich manchmal angesehen hatte – so als suche sie etwas in meinen Zügen. Als ich sie später einmal danach gefragt hatte, antwortete sie nur: »Du bist eine Pemberton.«
    Ich wußte also, daß zwischen mir und diesem Haus eine Verbindung bestand; ich wußte, daß ich früher einmal hier gelebt hatte, und doch hatte ich keine Erinnerung an jene Zeit. Denn meine Mutter hatte in den zwanzig Jahren, in denen wir in ärmlichen Verhältnissen in London gelebt hatten, nur wenig aus der Vergangenheit erzählt. Mein Zögern an jenem tristen Tag hatte noch einen anderen Grund. Mir gingen die Geschichten und Schauermärchen nicht aus dem Sinn, die ich am Bahnhof und im Dorfgasthaus am Rande gehört hatte. Pemberton Hurst, so schien es, war ein verfluchter Ort. Die Bauern der Gegend munkelten von Spuk und Hexerei. Doch während ich jetzt vor dem grauen Gebäude stand, sah ich nur ein schönes altes Herrenhaus im elisabethanischen Stil, Relikt einer vielleicht besseren Zeit. Ja, so zeigte sich mir das Haus an jenem zur Neige gehenden Wintertag des Jahres 1857. Es war ein großartiges und beeindruckendes Gebäude, wenn auch düster in diesem Licht, aber so stattlich und nobel, daß es den vornehmen Häusern, die man in der Park Lane in London sehen konnte, in nichts nachstand. Nur der Park war eigentümlicherweise wenig ansehnlich; beinahe wirkte er verwahrlost. Der Vorplatz bot dem Auge kaum etwas, woran es sich hatte erfreuen können: eine mit Kieselsteinen bedeckte Auffahrt, braunes, von Efeu überwuchertes Gitterwerk, welkes Gras und kahle Bäume. Obwohl es nur ein ungepflegtes Stück Land war, hatte es etwas Wildes und Ungezähmtes an sich und vermittelte einen Eindruck trotzig herausfordernder Ungebärdigkeit. Die mächtigen Bäume, deren Äste sich knorrig über die Auffahrt streckten, wirkten wie dunkle Riesen, die

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