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langsam am Ekel zugrunde gingen.
Er sah, wie gesagt, sich selbst, mönchisch über seine deutschen Wörterbücher gebeugt, im Schein einer schwachen Glühbirne, mager und zäh wie der zu Fleisch, Knochen und Muskeln gewordene Wille, ohne ein Gran Fett, fanatisch und entschlossen, die Sache zum Erfolg zu bringen, kurz: Er sah das Bild eines ganz normalen Studenten in der Hauptstadt, das jedoch wie eine Droge in ihm arbeitete, eine Droge, die ihm die Tränen in die Augen trieb, eine Droge, die, wie ein kitschiger holländischer Dichter des neunzehnten Jahrhunderts sich ausdrückte, die Schleusen der Rührung öffnete, und die von etwas anderem, das auf den ersten Blick wie Selbstmitleid aussah, aber keines war (was war es dann? Wut womöglich), und ihn wieder und wieder an seine jugendlichen Lehrjahre denken ließ, aber nicht in Worten, sondern in schmerzlichen Bildern, und nach einer langen und vielleicht vertanen Nacht in seinem Kopf zwei Einsichten erzwang: Dass erstens sein bisheriges Leben ein für alle Mal vorbei war und dass ihm zweitens eine glänzende Karriere bevorstand; er musste sich nur, damit sie glänzend blieb, als einzige Erinnerung an jene Dachbodenzeit seinen Willen bewahren. Das schien ihm eine lösbare Aufgabe.
Jean-Claude Pelletier, Jahrgang 1961, wurde schon 1986 Professor für deutsche Literatur in Paris. Piero Morini kam 1956 in einem Dorf unweit von Neapel zur Welt, und obwohl er Benno Archimboldi erstmals 1976 las, also vier Jahre vor Pelletier, dauerte es bis 1988, dass er einen ersten Roman des deutschen Autors übersetzte - Bifurcaria bifurcata -, der in den italienischen Buchhandlungen ziemlich sang- und klanglos unterging.
Man muss hinzufügen, dass sich die Situation für Archimboldi in Italien deutlich von der in Frankreich unterschied. Morini war nämlich nicht sein erster Übersetzer. Mehr noch; der erste Roman von Archimboldi, der Morini in die Hände fiel, war eine italienische Ausgabe der Ledermaske, die ein gewisser Colossimo 1969 für Einaudi übersetzt hatte. Im Anschluss an Die Ledermaske erschienen in Italien 1971 Flüsse Europas, 1973 Erbschaft und 1975 Die Vollkommenheit der Schiene, nachdem bereits 1964 in einem römischen Verlag ein Auswahlband Erzählungen unter dem Titel Die Berliner Unterwelt veröffentlicht worden war, der vor allem Kriegsgeschichten versammelte. Archimboldi war also in Italien kein völlig Unbekannter, obwohl man ihn auch nicht als erfolgreichen oder mittelmäßig erfolgreichen oder wenig erfolgreichen Autor, sondern nur als total erfolglosen Autor bezeichnen konnte, dessen Bücher in den hintersten Regalen der Buchhandlungen moderten oder verramscht wurden oder vergessen in den Magazinen der Verlagshäuser herumlagen, bevor sie überhaupt aufgeschnitten worden waren.
Selbstverständlich ließ sich Morini von den geringen Erwartungen, die Archimboldis Werk bei der italienischen Leserschaft weckte, nicht abschrecken, und nach seiner Übersetzung von Bifurcaria bifurcata schickte er je einen Aufsatz über Archimboldi an zwei Zeitschriften in Mailand und Palermo, einen über Schicksal und Verhängnis in Die Vollkommenheit der Schiene und einen über die vielfältigen Verkleidungen von Gewissen und Schuld in Letea, einem allem Anschein nach erotischen Roman, und in Bitzius, einem keine hundert Seiten langen Roman mit gewissen Ähnlichkeiten zu Mitzis Schatz - jenem Buch, auf das Pelletier in einer alten Münchner Buchhandlung gestoßen war - und einer Handlung, die um das Leben von Albert Bitzius kreist, Pastor von Lützelflüh im Kanton Bern, Verfasser von Predigten, außerdem Schriftsteller unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf. Beide Essays wurden abgedruckt, und die Eloquenz oder Sprachgewalt, mit der Morini seinen Archimboldi schilderte, ebnete einer weiteren Übersetzung von ihm den Weg, der des Heiligen Thomas, die 1991 in die italienischen Buchhandlungen kam. Damals arbeitete Morini bereits an der Universität Turin, wo er deutsche Literatur unterrichtete, und schon damals hatten die Ärzte bei ihm multiple Sklerose diagnostiziert, schon damals war er einem spektakulären und seltsamen Unfall zum Opfer gefallen, der ihn für immer an den Rollstuhl fesselte.
Manuel Espinoza fand auf Umwegen zu Archimboldi. Er war jünger als Morini und Pelletier und hatte zumindest in den ersten beiden Jahren seines Studiums nicht deutsche, sondern spanische Philologie studiert, neben anderen beklagenswerten Gründen deswegen, weil er davon träumte,
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