272 - Dieser Hunger nach Leben
mit erfundenen Aussagen, die er allerdings zuvor auf Grund von Wochenschauberichten und Gerüchten hochgerechnet hatte. Es blieb trotzdem ein gefährliches Spiel, aber Kraft spielte auf Zeit. Er wusste nur zu genau, wann der Krieg enden würde und wer dann die Nase vorn hatte. Eigentlich alle anderen - und Deutschland würde der große Verlierer sein. Vielleicht auch er, das wusste er nicht so genau. Deswegen war er wild entschlossen, die Privilegien, die ihm seine Mitgliedschaft in Himmlers »Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte Deutsches Ahnenerbe e.V.« einbrachte, bis zum Schluss zu genießen. Da sich das Ahnenerbe hauptsächlich mit Hexenforschung und anderen okkulten Themen beschäftigte, war er der richtige Mann am richtigen Ort, der unumschränkte Superstar sozusagen. Kein anderer hätte die Erlaubnis bekommen, sich ständig in seiner Heimatstadt aufhalten zu dürfen, wenn er so dringend in Berlin gebraucht wurde.
Das Telefon klingelte. Heinz Scheuermann war dran. Kraft kannte den Standartenjunker schon von klein auf.
»Morgen, Paul. Hab ich dich aus dem Bett geworfen?«
»Als ob man bei dem ständigen Sirenengeheul überhaupt noch ein Auge zutun könnte. Nein, schon recht, Heinz. Willst du mich in den Kraftsportraum abholen? Meine Muskeln haben ganz schön abgebaut in letzter Zeit. Da ist nicht mehr viel ›Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl‹ übrig.«
Scheuermann lachte. »Mit Krafttraining wird das heute nichts. Himmler will dich sehen, und zwar umgehend. Du sollst auf die Wewelsburg hochkommen.«
»In euer Heiligtum? Das ist ja eine ganz besondere Ehre. Was will der Alte denn von mir?«
»Du bist der Hellseher, nicht ich. - Nein, keine Ahnung. Komm einfach, dann wirst du's erfahren.«
»Bin schon unterwegs.« Paul Kraft frühstückte zu Ende, warf sich in seinen Anzug und stieg dann in seinen spiegelblank geputzten Horch. Er fuhr durchs Almetal. Hoch oben auf einem Felsen, im Schneegestöber nur unzureichend zu sehen, lag die sagenumwobene Wewelsburg, die angeblich aus der Zeit Heinrichs I., des deutschen Reichsgründers, stammte. Himmler hatte sie 1934 vom Landkreis Buren gepachtet und zur SS-Ordensburg umfunktioniert. Nun fungierte sie als repräsentative und ideologische Zentrale des SS-Ordens.
Diese ganzen Details wusste Kraft von Scheuermann, der im Stab Himmlers auf der Wewelsburg Dienst tat. Nachdem er zwei Kontrollen auf der Zufahrt zur Burg passiert hatte, fuhr er über die Brücke des Nordflügels in die Burganlage, die als einzige in Deutschland dreieckig angelegt war.
Trotz des Schnees arbeiteten Leute im Hof und an den Fassaden. Zwei SS-Männer salutierten stramm und geleiteten Kraft zum Nordturm.
Kurze Zeit später stand er im Obergruppenführersaal. Da ihn Himmler warten ließ, betrachtete der schmale kleine Mann mit dem spitzen Gesicht das großflächige runde Ornament, das in den Marmorfußboden eingelassen worden war. Im Mittelpunkt des Mosaiks befand sich eine goldene Scheibe.
»Schön, nicht?« Heinrich Himmler war unbemerkt in den Raum getreten.
Kraft nahm Haltung an und salutierte. »Ja, ein wunderbares Mosaik. Guten Morgen, mein Reichsführer. Was kann ich heute für Sie tun?«
Himmler, in schwarzer SS-Uniform und mit frischem Haarschnitt, der nur noch einen schmalen Deckel auf dem Kopf beließ, nahm die Brille ab und lächelte. »Ja, mein lieber Kraft, dieses Sonnenrad, das Weisthor entworfen hat, ist das Symbol unserer neuen, germanischen Religion, die wir nach dem Endsieg einführen werden. - Aber deswegen sind Sie nicht hier. Darf ich Sie ins Nebenzimmer bitten, Kraft?«
»Aber natürlich.« Paul Kraft wusste nicht, warum ihn plötzlich eine starke innere Unruhe erfüllte.
Vor dem Nebenraum ragte die kniende Steinstatue einer Frau auf. Kraft musterte sie kurz. Sie war wunderbar. Der Künstler hatte jedes noch so winzige Detail herausgearbeitet. Aber warum um alles in der Welt hatte man ihr Winterkleidung angezogen?
»Gefällt sie Ihnen, Kraft?« Himmler schaute ihn gespannt an.
»Sehr. Wer hat sie geschaffen?«
»Sagen wir… ein unbekannter Künstler.« Der Reichsführer SS grinste seltsam, was Krafts Unruhe nur verstärkte.
Als das Medium hinter Himmler einen kleinen, holzgetäfelten Raum betrat, sah es fünf SS-Chargen um einen Tisch stehen. Darauf lag etwas, das mit einem dicken Tuch abgedeckt war.
»Sie erinnern sich, dass Sie uns im Herzen des Reichs große Ölfunde prophezeit haben, mit deren Hilfe wir den Krieg gewinnen werden?«, fragte
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