Die schöne Spionin
Kapitel 1
London, 1813
Sie hatte Mortimer Applequist am 7. April 1813 in einer Mischung aus Wut und Einfallsreichtum geheiratet. Er hatte nicht viel von einem Ehemann, er war nur ein Name, den sie nennen konnte, wenn sich die Leute zu sehr für ihre Angelegenheiten interessierten. Aber was das anging, hatte er Miss Agatha Cunnington wirklich gute Dienste erwiesen.
Bis jetzt.
Zu Beginn ihrer Reise hatte man Agatha un
zählige Male hingehalten und beh
indert. Immer war es irgendeine wohlmeinende Seele, die sie vor sich selbst beschützen wollte.
Als ob eine Frau nicht in der Lage wäre, sich ohne die Anleitung ihres Ehemannes eine Fahrkarte zu kaufen und von Lancashire nach London zu fahren!
Doch seit sie auf ihre Verehelichung hinwies, begegneten Agatha nur noch Beistand und höflicher Respekt.
Wahrlich, sie hätte schon vor Jahren einen Ehemann erfinden sollen!
Weil es ihr missfiel, den armen Mortimer einen bloßen Namen bleiben zu lassen, den sie bei Bedarf ausspie, verbrachte Agatha auf der Fahrt manch amüsante Stunde damit, sich Mortimer detailliert auszumalen. Er war schließlich ihre Schöpfung, oder nicht?
Er war groß, aber nicht massig. Elegant, aber nicht affig. Dunkel, aber nicht düster. Hätte sie es nur geschafft, sich die verschwommenen Gesichtszüge genauer auszumalen, sie wäre mit dem erfundenen Gatten vollends zufrieden gewesen.
Als sie in der Stadt ankam, hatte Mortimer schon zusehends Gestalt angenommen, was es ihr gestattete, ein kleines Haus -ihr eigenes! – am respektablen Carriage Square zu mieten und ein paar Bedienstete einzustellen.
Doch Mortimer ermöglichte ihr vor allem, auf der Suche nach ihrem verschwundenen Bruder James alle Register zu ziehen.
Aber mit alledem hatte es heute ein Ende, wenn ihr nicht bald eine Lösung einfiel.
Die Uhr im Eingang schlug die volle Stunde, und Agatha verzweifelte langsam. Sie drehte sich um und lief wieder im vorderen Salon ihres bezaubernden neuen Hauses auf und ab. Sie ignorierte das Rosenmuster der Tapete und das schimmernde dunkle Holz, derentwegen sie das Haus ausgesucht hatte. Die Arme fest verschränkt und mit gesenktem Kopf hing sie ihren wirren Gedanken nach.
Warum waren die Männer in Agatha Cunningtons Leben nie da, wenn man sie brauchte?
Vielleicht konnte sie Pearson entsprechend ausstaffieren -nein, zu alt und zu beleibt. Sie konnte Harry vorschieben -nein, zu jung, fast noch ein Kind. Sie hatte Harry als Lakaien eingestellt, um Pearson einen Gefallen zu tun, aber der Neffe des Butlers konnte kaum über seine zwei linken Füße hinaussehen.
Sie brauchte einen Mann, und sie brauchte ihn sofort!
Simon Montague Raines, alias Simon Rain, blieb vor dem Dienstboteneingang des Hauses am Carriage Square stehen und prüfte seine Tarnung. Gesicht und Hände waren rußgeschwärzt, und die langen, um die Schulter geschlungenen Bürsten waren glaubhaft abgenutzt. Kein Wunder, hatte er doch einst seine Brötchen damit verdient.
Mit dem schmucken Eingang und den geschrubbten Stufen sah das Haus der Zielperson von außen ganz normal aus. Es war erstaunlich, welche Verderbtheit hinter einer harmlosen Fassade lauern konnte: Laster, Lügen, sogar Hochverrat.
»Mrs Mortimer Applequist« stand im Mietvertrag. Aber die Miete wurde von einem Konto bezahlt, das Simon seit Wochen beobachtete. Der Inhaber des Kontos war ein Mann, der genau wusste, wie man Verrat definierte.
Simon hätte einen seiner Männer schicken und sich fern halten sollen, wie jeder gute Spionagechef es getan hätte. Aber Simon musste sich eingestehen, dass er den Fall persönlich nahm. Irgendjemand brachte reihenweise seine Männer um. Männer, deren Identität so geheim war, dass sie kaum voneinander wussten.
Nur zwei Angehörige des Liar’s Club verfügten über die erforderlichen Informationen, um ein Mitglied nach dem anderen zur Strecke zu bringen. Simon und ein weiterer Mann. Ein Mann, der sich seit mehreren Wochen nicht mehr gemeldet hatte. Ein Mann, dessen Guthaben bei einer Londoner Bank urplötzlich angewachsen war. Der Mann, der nach Simons Informationen ordentlich dafür bezahlt hatte, das hübsche kleine Haus, das Simon jetzt vor sich hatte, zu mieten und einzurichten.
Mit grimmigem Lächeln packte Simon seine Besen und machte sich bereit, ein letztes Mal die verhasste Rolle des Kaminkehrers zu spielen. Alles zur Verteidigung der Krone, selbstverständlich.
Die Situation wurde immer verzweifelter. Agatha hatte sich den ganzen Vormittag über ihren
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