28 Tage lang (German Edition)
Macius wach, die Korczak einst erfunden hatte. Er erzählte von Klu-Klu, die schon hundertzwölf europäische Wörter kannte, von dem Einsiedler im Turm und davon, wie der kleine König aus dem Gefängnis fliehen wollte und dabei lernte, dass das Wichtigste im Leben nicht das Resultat war, sondern dass man sich zu etwas entschloss.
Rebecca hörte nur halb hin, zum einen weil sie immer wieder wegdämmerte, zum anderen weil Daniel immer langsamer und leiser wurde. Das Gas in der Miła 18 hatte ihm viel mehr zugesetzt als mir.
Rebecca wandte sich hundemüde an mich: «Kennst du nicht eine Geschichte, die spannender ist?»
Es war das erste Mal, dass sie redete.
Ich war so überrascht, dass ich erst mal gar nicht antworten konnte.
«Daniel hat immer nur Geschichten vom kleinen König Macius», beschwerte sie sich. «Die kenn ich alle auswendig.»
Daniel lächelte schwach.
«Ich … ich», stammelte ich, «ich glaub, ich kenn da eine.»
Neben mir schloss Daniel dankbar seine Augen, und ich begann die Geschichte von den 777 Inseln zu erzählen, davon, wie Hannah und Ben Rothaar den Reiseführer fanden, wie Hannah behauptete, dass sie die Auserwählte sei, wie sie die drei magischen Spiegel fand, die den finsteren Spiegelmeister besiegen konnten, und, und, und …
Kurz nach Mitternacht erreichte ich die Stelle in der Geschichte, an der die Besatzung der
Langohr
den Berg erklomm.
Heute Nacht, in diesem Abwasserkanal, würde sich das Schicksal der Inseln entscheiden. Ebenso das von Hannah und auch, ob ich es schaffen würde, mich dem Spiegelmeister zu stellen.
77
Der Spiegelpalast schien unendlich groß zu sein. Ob er es tatsächlich war, ließ sich nicht recht beurteilen, spiegelte er sich doch in sich selber unendliche Male wider, womöglich war er in Wahrheit ganz klein. Nirgendwo gab es ein Tor, eine Tür oder auch nur eine Luke. Nur Spiegel. Überall glattpolierte Spiegel.
«Eine Tür wäre nicht schlecht», befand Kapitän Karotte, der in der Kälte hoch oben über dem Meeresspiegel trotz Hasenfells zitterte.
Wie auf Stichwort verschwand ein Spiegel und legte einen Gang frei, der in das Innerste des Palastes führte. Selbstverständlich bestanden die Wände des Ganges, sein Boden und seine Decke auch aus Spiegeln.
«Müssen wir wirklich da rein?», klapperte der Werwolf mit den Zähnen, mehr vor Angst als vor Kälte. Auch uns anderen war mulmig zumute.
Hannah versuchte die Stimmung etwas zu entspannen: «Gut, dass der Tyrann Spiegelmeister heißt und nicht Kuhdungmeister.»
Selbst der Werwolf musste so grinsen, dass er dabei das Zähneklappern vergaß.
Wir betraten den Gang. Überall sahen wir Zerrbilder von uns, dicke, dünne, wellige, hässliche.
«Wenn ich eins noch weniger mag als den Spiegelmeister», hob ich an.
«… dann ist es sein Humor», vollendete Hannah.
Wir beide grinsten uns an. Zwei Schwestern, die sich verstanden. Hier noch viel mehr als im echten Leben.
Von Schritt zu Schritt wurden die Bilder jedoch schrecklicher. Nach vielleicht fünfzig Metern sahen sie regelrecht grausam aus, als ob wir Monster wären mit Augen, die aus den Augenhöhlen hingen, verkrüppelten Gliedern und Fratzen, die nur eins konnten: hassen.
Die Mira, die mich mit hassverzerrter Fratze ansah, war die, die Soldaten erschoss. Ich schloss die Augen. Diese Mira wollte ich nicht mehr sehen. Ich wollte sie nicht mehr sein.
Tastend folgte ich den anderen, bis ich Hannah sagen hörte: «Das ist ja wunderschön.»
Ich öffnete die Augen wieder. Wir standen in einem großen Saal voller Spiegelkristalle, Spiegelblumen und Spiegelkronleuchtern. Das Licht tanzte in dem Glas. Alles funkelte. Das Farbenspiel war nicht nur wunderschön, es war geradezu überwältigend.
Ein niedlicher kleiner Mann, der ganz aus Spiegelglas bestand, erhob sich von einem Spiegelthron und trat auf uns zu. Der Spiegelmeister sah ganz und gar nicht aus wie in meinen Albträumen.
«Du bist also die Auserwählte», begrüßte er Hannah freundlich.
«Ja, das bin ich», antwortete Hannah und nahm Ben Rothaar an die Hand.
«Und du willst wirklich meine Macht über die Inseln brechen?» Sein Lächeln wurde ein klein wenig bedrohlicher.
«Das will ich nicht nur. Das werde ich», antwortete Hannah.
Der Spiegelmeister streckte die Arme von sich, als ob er sich als Zielscheibe anböte, und lachte: «Nur zu!»
Hannah ließ Ben Rothaar los, öffnete flink den Rucksack und holte die drei magischen Spiegel hervor, von denen niemand wusste, wie
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