28 Tage lang (German Edition)
zum Hals.
«Achtung!», schrie Abraham mit einem Mal, als wir in einer Röhre waren, in der mir das faulige Wasser lediglich bis zur Brust reichte. Auf uns spülte eine gigantische Abwasserwelle zu.
Die Welle schlug über meinen Kopf zusammen, riss mich von den Beinen, und ich tauchte unter. Dabei drang mir die Brühe durch die Nase, weil ich es nicht rechtzeitig geschafft hatte, die Luft anzuhalten. Panisch versuchte ich wieder einen festen Stand zu bekommen. Ich strampelte und strampelte, und endlich fanden meine Füße festen Boden.
Ich tauchte wieder auf und erbrach mich sofort. Josef tat es mir gleich. Abraham rang nach Luft und stützte mich die ersten Schritte, bis ich wieder allein gehen konnte. Die Kerzen waren von der Flut gelöscht worden, jetzt hatten wir nur noch das Licht der Taschenlampe.
Keiner von uns sagte mehr etwas, keiner sprach von seiner Angst, hier unten zu ertrinken. Wir gingen einfach weiter, Schritt für Schritt, und nahmen dabei immer neue Abzweigungen. Mal stieg das Abwasser, mal sank es auf Kniehöhe. Noch zwei weitere Male brachen Wellen über uns hinein, aber nun waren wir auf sie vorbereitet und hielten jeweils rechtzeitig die Luft an.
Als wir nach einer halben Stunde an eine Gabelung kamen, sah unser Führer Abraham unsicher von links nach rechts. Mir war gleich klar, was das bedeutete: «Du hast dich verlaufen.»
«Nein, nein», wiegelte er ab. «Wir müssen links entlang.»
Abraham versuchte sicher zu wirken. Wir folgten ihm, doch mich verließ der Mut, dass wir je auf die andere Seite gelangen würden. Ich würde hier unten verrecken.
Nach wenigen weiteren Minuten begriff auch Josef, dass unser Führer nicht mehr wusste, wo wir uns befanden.
«Es … es tut mir leid», gestand Abraham.
«Es tut dir leid? Es tut dir leid?», brüllte Josef. «Wenn wir nicht auf die andere Seite kommen, sterben alle!»
«Ich weiß.» Abraham begann zu weinen. «Aber was soll ich machen? Was?»
Ich lehnte mich erschöpft an die Mauer.
Da blitzte ein Scheinwerferlicht auf.
Die Quelle des Lichtes lag hinter der nächsten Ecke.
«Deutsche», zischte Josef leise.
Der Lichtkegel wurde immer größer. Die Soldaten näherten sich!
Wir standen da wie angewurzelt, wussten nicht, wohin wir in dieser stinkigen Hölle fliehen sollten.
Das Licht kam um die Ecke und blendete uns. Wir starrten es in Schockstarre an wie Tiere.
Eine Stimme rief: «Ich bin einer von euch!»
«Ein Wunder», jubelte Josef.
Ich jubelte noch lauter, denn die Stimme gehörte Amos.
So schnell wie möglich stapfte ich durch das Wasser auf meinen Mann – ja, er war mein Mann – zu, und er nahm mich in die Arme. Wir stanken nach Kot, Urin und Abwasser. Aber ich verspürte ein Glück, von dem ich mir nicht hatte vorstellen können, es noch einmal empfinden zu dürfen.
Amos erzählte aufgeregt, dass er auf der polnischen Seite einen Kanalarbeiter bestochen hatte, ihm einen sicheren Weg durch die Kanäle ins Ghetto aufzuzeigen. Der Kanalarbeiter war auch mit Amos hinabgestiegen, wollte aber nach einer Weile wieder umkehren. Amos zog darauf seine Pistole, der Kerl entschied sich dafür weiterzuleben und zeigte Amos, wie man sicher unter der Erde in das Ghetto und wieder hinaus gelangen konnte. Doch als Amos zur Miła 18 zurückkehrte, um alle zu holen, war der Bunker schon zerstört.
«Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren», sagte er und drückte mich noch fester an sich.
«Und ich dachte dasselbe von dir», erwiderte ich und wollte ihn nie wieder loslassen.
«So leicht wirst du mich nicht los», grinste mein Ehemann.
Ich musste lachen, und Amos verteilte an uns Bonbons und Zitronen, die er in einem kleinen Sack mitgebracht hatte.
«Ich hab seit Jahren keine Zitronen gesehen», stammelte Josef, der sein Glück kaum fassen konnte.
«Und dann auch noch hier unten», lachte Abraham, der so erleichtert war, dass wir nicht wegen ihm in der Kloake ertrinken würden.
«Was machen wir jetzt?», fragte ich Amos, während ich an einem wunderbar süßen Bonbon lutschte, der den fauligen Geschmack in meinem Mund vertrieb.
«Wir brauchen einen Lastwagen.»
«Einen Lastwagen?», fragte ich irritiert.
«Im polnischen Teil werdet ihr alle aus der Kanalisation steigen. Ich organisiere einen Lastwagen, sammle euch auf, und wir fahren in die Wälder …», erzählte er begeistert.
Ich konnte mir nicht so recht vorstellen, dass dieser Plan aufgehen würde, doch ich behielt das für mich. Die Augen von Amos funkelten
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