284 - Augen der Ewigkeit
Bereits in wachem Zustand vermochte sie die Präsenz der anderen, die so waren wie sie, wie ein stetes Hintergrundrauschen zu vernehmen. Nur als Drax mit dem Amphibienfahrzeug getaucht war, war das Rauschen verstummt. Sie war in Panik verfallen, doch nach einem hysterischen Anfall, den vorzuspielen ihr in ihrer Aufregung nicht schwerfiel, hatten sie den größten Teil der Kanalüberquerung über Wasser hinter sich gebracht.
Nun aber, im Zustand tiefer Entspannung, schwoll das permanente Begleitgeräusch zu einem Chor an. Mit weicher Stimme sang er ein Lied süßer Verlockung. Manche hatten ihr Ziel bereits erreicht und frohlockten. Andere waren noch unterwegs und intonierten eine sehnsuchtsschwere Melodie.
Sie teilten ein Schicksal in der Vergangenheit. Sie würden es auch in der Zukunft teilen. Wenn sie alle vereint waren, dann…
»Wir hätten es noch an anderen Stellen versuchen sollen!«
Die Stimme mischte sich dissonant in den Chor und brachte die Sänger zum Verstummen.
Victoria öffnete die Augen. In einiger Entfernung sah sie zwischen den Bäumen ein junges Pärchen, das sich durch das Gestrüpp kämpfte. Beide waren klatschnass und in ein Streitgespräch vertieft.
»Du hast mir versprochen, dass wir vor Einbruch der Nacht wieder in Moong sein werden!«, sagte das Mädchen. Es trug die langen schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden. »Also halt gefälligst dein Wort, Onrii!«
Der Junge, ein gutaussehender Bursche mit kräftigen Augenbrauen, grinste sie an. »Das tu ich doch. Schließlich sind wir auf dem Nachhauseweg, oder etwa nicht, Roos?«
»Doch, schon.«
Victoria glitt seitlich von dem Felsen, um nicht entdeckt zu werden. Vorsichtig lugte sie daran vorbei und beobachtete weiter.
»Eben«, sagte Onrii. »Ich meinte ja auch nur, dass wir uns viel zu lange bei dem Portal aufgehalten haben. Wir hätten die Gegend sorgfältiger nach anderen Zugängen absuchen müssen.«
»Ach was! Da ist nichts. Meinst du, du bist der Erste, dem diese Idee gekommen wäre?«
»Nein. Aber der Erste, der damit Erfolg haben wird. Ich werde das Heiligtum betreten, das schwöre ich dir. Morgen…«
»Morgen? Du willst noch einmal zurückkehren?«
»Natürlich.«
»Bitte nicht! Wir haben uns heute schon zu lange bei dem alten Spukgemäuer aufgehalten. Wir dürfen die Dämonen nicht unnötig herausfordern.«
»Du glaubst doch nicht etwa an diese Schauergeschichten?« Spott schwang in Onriis Stimme mit.
»Wenn du hier leben würdest, dann…« Roos brach ab und stieß stattdessen einen spitzen Schrei aus. »Da! Ein Ungeheuer!«
Wie angewurzelt blieben sie stehen. Roos zeigte aufgeregt zwischen den Bäumen hindurch.
Auch Victoria blickte in die angegebene Richtung. Ein Monster konnte sie aber nirgends entdecken. Nur Bäume, Sträucher und dahinter - PROTO!
Onrii lachte schallend. »Ein Ungeheuer mit Rädern? So etwas gibt es nicht.«
Roos drängte sich fest an ihren Begleiter. Sie wirkte hilfsbedürftig wie ein frisch geschlüpftes Küken. »Trotzdem. Lass uns nicht zu nahe daran vorbeigehen, ja? Bitte!«
»Na schön, Angsthase.« Mit dem Zeigefinger stupste er ihr auf die Nase. Er nahm sie an der Hand und führte sie auf einer anderen Strecke wieder tiefer in den Wald hinein.
Da geschah es!
Ein sirrendes Geräusch erklang. Wie von einer Schnur, die man schnell anspannt. Dann riss irgendetwas Roos' Füße weg. Instinktiv ließ sie Onriis Hand los und stürzte mit einem Kieksen zu Boden. Im nächsten Augenblick zerrte etwas sie davon, über den Untergrund.
Victoria konnte nicht genau erkennen, was da geschah. Roos musste in eine Falle getreten sein. Vermutlich in eine Schlinge.
»Roos!« Nach einer Schrecksekunde rannte Onrii seiner Freundin nach. »Halt dich irgendwo fest!«
Sie versuchte es, krallte ihre Finger in den Waldboden, umklammerte Wurzeln oder Sträucher, doch die entglitten ihr immer wieder.
Plötzlich endete ihr Höllenritt. Für einen Moment lag sie ruhig - und war mit einem Mal verschwunden.
Victoria reckte den Hals. Offenbar hatten die Fallensteller das Mädchen zu sich geholt. In ein Loch oder eine Erdhöhle.
Dann erreichte Onrii den Ort ihres Verschwindens. »Roos!« Er ließ sich auf die Knie fallen und beugte sich hinab.
Also tatsächlich ein Loch!
Ein faustgroßer Stein schoss in die Höhe und traf Onrii an der Stirn. Der gab ein Grunzen von sich und sackte zusammen. Als er sich wieder aufrappeln wollte, zuckte eine Klaue mit bleicher Haut nach oben, packte Onrii an der Schulter und
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