286 - Der körperlose Herrscher
kommen müssen, um diese Stadt und diese Herrscherin mit eigenen Augen zu sehen. Vieles hatte sich bewahrheitet, anderes war noch immer unzivilisiert nach den Maßstäben Ei'dons, doch es war ein gigantischer Fortschritt in der Annäherung zwischen den verfeindeten Hydritenvölkern.
Ich bin ein Narr , dachte Mer'ol und ließ den Scheitelkamm hängen. Seit Tul'ar ihn verlassen hatte, war er ein Getriebener. Wieder dachte er an die schöne Hydritin zurück, und ein Schauer lief über seine metallicblauen Schuppen.
»Du bist immer so grüblerisch und verdrossen«, hatte sie ihm vorgeworfen. »Du kannst dein Leben einfach nicht genießen. Jedes Lächeln scheint dich Überwindung zu kosten.«
Sein Blick wanderte zu den kugelförmigen Koppeln am Rand des Schelfs, in denen sich Kampffische tummelten.
Verdrossen. Grüblerisch. O ja, das war er. Er war es schon immer gewesen, und das, was er erlebt hatte, hatte es nicht besser werden lassen. Er hatte immer noch Momente, in denen er zusammenschreckte und glaubte, eine mentale Macht würde nach ihm greifen, um ihn zu kontrollieren. Mitunter gab es Nächte, in denen er keinen Schlaf fand. Das machte keine gute Laune - bei Martok'aros - nein, das tat es nicht.
Einst war er ein Frevler gewesen, der Fisch gefressen hatte. Doch der Vorfall, der ihn nachhaltig prägte, war dann seine viele Zyklen andauernde Gefangenschaft bei den Daa'muren. Sie gönnten ihm keinen Schlaf, überwachten ihn zu jeder Phase und zerrissen seinen Geist. [6]
Zuerst hatte er geglaubt, die Gefangenschaft gut überstanden zu haben, doch das ganze Ausmaß der Nachwirkungen hatte sich erst Rotationen später gezeigt. Es hatte ihn seine Beziehung und seine Freunde gekostet.
Nun hoffte er in einer neuen Aufgabe Frieden zu finden. Er wollte mitarbeiten an der Versöhnung zwischen Mar'os-Jüngern und Ei'don-Gläubigen. Er war selbst einst ein Mar'osianer gewesen. Er hatte an Sar'kir geglaubt, und daran, dass es möglich war, die Hydritenvölker in friedlicher Koexistenz zu versöhnen.
»Narr«, klackte er. Es klang so verbittert, wie er sich fühlte. Die große Herrscherin Sar'kir, in die er seine Hoffnungen gesetzt hatte, war tot. Zu Stein erstarrt. Stattdessen herrschte ein ominöses Steinwesen, das mit den Mar'os-Jüngern nichts zu tun zu haben schien und sich in Quesra'nols und E'fahs Gedanken Mutter nannte. Dass dieses Wesen bereit war, lebende Hydriten zu opfern, war die Spitze eines Eisbergs.
Er durfte nicht in Neu-Martok'shimre bleiben. Das, was hier geschah, hatte mit seinem Traum eines geeinten, friedlich koexistierenden Hydritenvolkes nichts zu tun. Er musste sich der Wahrheit stellen und nach Hykton fliehen, um sich Quart'ol anzuvertrauen, seinem ehemaligen Mentor. Doch das widerstrebte ihm.
Quart'ol wird mich für einen Verräter halten. Er wird meine Rückkehr zu den Mar'os-Jüngern nicht verstehen. Außerdem hat er mir das Leben gerettet, damals am Kratersee. Wie kann ich schon wieder um seine Hilfe bitten? Ich bin nicht mehr sein Schüler, ich bin mein eigener Herr. Ich will nicht wie ein Krebs zu ihm kriechen, der Schutz sucht.
Wütend blickte Mer'ol auf die Stadt, als seien deren rote Kuppeln für seine Misere verantwortlich. Was sollte er nur tun?
***
E'fah tauchte aus den Fluten des Potomac auf und sah zu den einfachen Holz- und Lehmhütten, über deren Schornsteinen sich Rauch kräuselte. Vor ihr lag auf einem sanft gewellten Hügel ein kleines Dorf, das nicht mehr als zwanzig bewohnte Familienhütten umfasste.
Viele der Dorfbewohner waren vor einer Stunde aufgebrochen. Sie hatten Waffen und Fangnetze bei sich gehabt; offensichtlich wollten sie in einem nahegelegenen Waldgürtel jagen. E'fah hatte gemeinsam mit sechs anderen Hydriten gewartet, bis sie weit genug fort waren, um ihr nicht in die Quere zu kommen. Der Augenblick schien günstig. Auf der sandigen Uferstraße spielten Kinder in einfachen Leinenhemden, ein verkrüppelter Wolfshund suchte nach Fressbarem und ein paar Kolks krächzten in den Kronen eines Ahornbaums. Ansonsten lag das Dorf ruhig in der Vormittagssonne. Niemand schien auf einen Angriff vorbereitet. Es galt, schnell und gnadenlos zuzuschlagen, bevor jemand auf die Feinde vom Fluss aufmerksam wurden.
E'fah berührte ihren Kombacter, der ehemals der Herrscherin Sar'kir gehört hatte. Sie hatte ihn - mit Mutters Zustimmung - der versteinerten Hydritin abgenommen, genauso wie die Kleidung. Mit der Waffe konnte sie jeden Widerstand der Lungenatmer schnell
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