286 - Der körperlose Herrscher
Profession vor den anderen Mar'os-Jüngern geheimgehalten.
Er war neugierig, was das für ein Wesen war und ob vielleicht tatsächlich der Geist des großen Geistwanderers Dry'tor in dem Stein steckte, wie einige Mar'osianer vermuteten. Dry'tor galt als direkter Nachfahre von Mar'os und war in allen Meeren gefürchtet. Niemand wusste, wo er sich derzeit aufhielt. War sein Geist vielleicht in dieser Grotte aus Lavagestein? Aber warum gab er sich dann nicht zu erkennen? Und wieso hätte er einen Stein als Wohnsitz wählen sollen und keinen hydritischen Körper? Nein, mit dem Steinwesen musste es etwas anderes auf sich haben und er, Mer'ol, würde herausfinden, was das war.
Quesra'nols Stimme war gebieterisch. »Der Steingott wünscht, dass du die zwölf besten Krieger der Stadt vor ihm versammelst. Tue dies schnell und trödele nicht.«
Mer'ol nickte knapp. Wollte der Steingott ihn beschäftigt halten, weil er ihm misstraute? Er hatte bereits gespürt, dass dem Steinwesen seine geistige Barriere nicht gefiel. Das fremde Wesen konnte seine Gedanken nicht erkunden und ihn auch nicht lenken. Zumindest nicht, solange es Quesra'nol und E'fah kontrollierte und somit einen großen Teil seiner mentalen Kraft bündeln musste. Dafür war es ihm umgekehrt gelungen, einen kurzen Einblick in die Gedanken Quesra'nols und E'fahs zu erhalten und so kannte er zumindest den Namen, den das Wesen sich wohl selbst gab: Mutter.
Geschäftig wandte er sich ab und schwamm zum großen Muscheltor. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Quesra'nol den Stein auf den Altar legte und nach einer Axt griff. Er hob sie hoch über seinen Kopf und ließ sie auf den Steingott hinabsausen. Was, bei Martok'aros und Ei'don, hatte er vor?
Mer'ol unterdrückte den Impuls, innezuhalten und zuzusehen, was der urwüchsige Hydrit tat. Stattdessen schloss er das Tor hinter sich und schwamm den Grotten der Krieger in der Nähe der Vorratshöhlen entgegen. Wenn das Steinwesen ihm einen Auftrag gab, musste er ihn erfüllen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass der Steingott ihn töten würde, wenn er sich nicht fügte.
***
Quesra'nol führte die Axt mit aller Kraft und spürte dabei Mutters fieberhafte Erregung. Er trennte ein fingerkuppengroßes Stück ab und benutzte das steinerne Besteck, um es sorgsam in der Mitte des Altars zu platzieren. Erneut schlug er mit der Axt zu, wieder und wieder, bis das Werk vollendet war.
Ein Wächter brachte eine bionetische Transportkugel, die er neben ihm abstellte. Als Quesra'nol sie öffnete, wurden im Inneren zwölf glänzende Perlmutt-Muscheln sichtbar. Er holte sie hervor und verteilte sie auf dem Altar. Dann bettete er die Teilstücke, die er von Mutter abgetrennt hatte, in die Muscheln, die mit schwammig grünem Material ausgekleidet waren. Auf diese Weise würden die Splitter sicher zu transportieren sein.
Zwölf Abkömmlinge sollen es sein, die auf die Reise gehen , sagte Mutter in seinen Gedanken. Zwölf Kinder, die Mutter dienen .
»Was hoffst du zu finden?«
Mutter stutzte und Quesra'nol konnte das Misstrauen fühlen, das ihm entgegenschlug. Er hatte es schon gespürt, als er die Splitter von Mutter abtrennte. Eine falsche Bewegung und die Wachen hätten ihn sofort getötet. O ja, er hatte darüber nachgedacht, das Wagnis einzugehen, aber letztlich war der Einfluss von Mutter zu stark. Er konnte ihr nicht schaden. Nicht auf diese Weise. Ganz davon abgesehen, dass es zweifelhaft war, ob er sie auf diese Art wirklich vernichten konnte. Im schlimmsten Fall hätte er ihr Bewusstsein geteilt und zwei Gegner gehabt statt einem.
Mutters Antwort unterbrach seine Überlegungen. Ich will den Ursprung finden. Das, von dem ich einst getrennt wurde.
»Du meinst, es gibt noch mehr von dir?« Der Gedanke war beängstigend.
Sehr viel mehr , antwortete Mutter in seinem Kopf.
Gegen seinen Willen begann Quesra'nol zu zittern. Sehr viel mehr… Wie gewaltig war wohl die Macht dieses Ursprungs, wenn schon dieser kleine Teil hier fähig war, eine ganze Stadt zu beherrschen?
»Wo befindet sich der Ursprung?«, fragte er weiter.
Mutter schwieg einen Moment und er spürte, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.
Ich bin seit Äonen auf der Suche nach ihm , kam endlich die Antwort. Bislang konnte ich ihn nicht finden. Aber ich bin sicher, dass ich ihn spüren werde, wenn ich in seine Nähe komme. Ich… oder meine Ableger.
Quesra'nol begriff. Mit den Splittern hatte sie ihre Chancen verzwölffacht, den Ursprung zu finden!
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