290 - In den Gärten von Sha'mar
sollte, ließ es dann aber bleiben. Das hätte ihm selbst der gutgläubigste Dörfler nicht abgenommen. »Eine Bedrohung, die man mit Aberglauben abtut, wird dadurch nicht ungefährlicher. Im Gegenteil hindert es einen daran, ihr mit wachen Sinnen zu begegnen.«
Die Augen des Alten musterten ihn. »Du scheinst mir ein kluger Mann zu sein«, sagte er dann. »Vielleicht ein wenig zu klug.« Der Greis entblößte ein lückenhaftes Gebiss und spuckte Matt schwarzen Pflanzensud vor die Füße. »Du wartest hier. Wir werden nun deine Gefährtin befragen. Du solltest dir wünschen, dass sie ähnliche Antworten gibt wie du.«
Der Alte ließ ihn einfach auf dem Platz zurück. Eine Windbö wirbelte Staub auf. Matt schloss die Augen und konzentrierte sich. Er musste seine Gedanken so klar und deutlich formulieren wie möglich, wenn Aruula erkennen sollte, was er ihr übermittelte.
Zwischen ihnen beiden bestand schon lange eine intensive Verbindung, die über das reine Lauschen , das alle Frauen vom Volk der Dreizehn Inseln beherrschten, hinausging. Aruulas Geist war quasi auf den seinen geeicht. So musste sie auch keinen Sichtkontakt mehr haben, um in seinem Kopf zu lesen.
Minuten später, Matt trat bereits unruhig von einem Bein aufs andere und glaubte sich von allen Seiten beobachtet, kamen die drei Alten aus den Schatten, begleitet von Aruula und einem ganzen Schwarm dunkelhäutiger Dorfbewohner unterschiedlichen Alters. Allesamt lächelten sie, und ein Haufen Kinder umringte Matt mit einer Zutraulichkeit, wie er sie schon lange nicht mehr erlebt hatte.
Was immer Aruula ihnen gesagt hatte, es stimmte sie offensichtlich fröhlich. Matt fiel ein Stein vom Herzen. Mit Ärger wie bei den Guulen und Fischmenschen hatten sie hier nicht zu rechnen.
***
»Das Dorf Nohq'wa ist eines von ungefähr hundert im Westen der weiten Ebene«, erklärte Rishi und reichte Matt eine hölzerne Schale mit einer heißen, bitter schmeckenden Flüssigkeit. Chaa. Ein Teegetränk, dessen dunkle Blätter auf der Oberfläche trieben. »Wir sind lose untereinander verbunden. Eine Versammlung der Weisen, zu denen auch ich mich zählen darf, sorgt dafür, dass die Blutslinien immer wieder vermengt werden. Dass nicht allzu viele Verbindungen innerhalb einer Dorfschaft entstehen. Unsere jungen Leute werden deshalb ab einem Alter von zwanzig Jahren auf Wanderschaft geschickt - oder aber, wenn es die Situation erfordert, einer Ansiedlung zugeteilt.«
»Wenn es die Situation erfordert?«, echote Aruula. Sie kratzte mit den Fingern weichgekochte Körner, die an Reis erinnerten, aus einer weiteren Schüssel und schob sie sich in den Mund.
»Nicht immer geht es so friedlich zu wie heute«, sagte Rishi und kratzte sich verlegen an der Wange. »Wie ich bereits sagte, wurden wir vor einigen Jahren von Barbarenhorden aus dem Norden überschwemmt. Auch kann es geschehen, dass die Angehörigen der großen Handelskarawanen der Meinung sind, sie müssten für unsere Leistungen nichts bezahlen. Oder aber es kommt zu inneren Unruhen im Einflussbereich der Urquu't.«
»Wie das?«, fragte Matt. Er trank vorsichtig. Die heiße Brühe hatte einen deutlichen alkoholischen Beigeschmack.
»Es kommt immer wieder vor, dass einzelne Dörfer der Häresie verfallen und auf falsche Götter vertrauen. Sie bemühen sich dann mit aller Kraft, uns von der Richtigkeit ihres Glaubens zu überzeugen. Schon so mancher Urquu't ist in den Kämpfen um die Vorherrschaft der Götter ums Leben gekommen.«
Querelen. Streitigkeiten. Auseinandersetzungen zwischen Dorf- oder Stammesfürsten, wie sie bereits vor vielen Jahrhunderten gang und gäbe waren. Matt erinnerte sich nur zu gut: Pakistan war vor »Christopher-Floyd« ein Vielvölkerstaat mit mehreren Dutzend Ethnien und über fünfzig verschiedenen Sprachen gewesen, geeint durch die gemeinsame Religion und oftmals durch eine Militärjunta mühselig zusammengehalten. Einstmals ein Teil Indiens, geteilt in West- und Ostpakistan, das als britisches Protektorat Bengalen nach dem Zweiten Weltkrieg zur eigenen Nation Bangladesch wurde…
Die Unabhängigkeit von Indien war eine schwere Geburt gewesen, deren Nachwehen auch im Jahr 2012 noch zu spüren gewesen waren. Und selbst heute, mehr als fünf Jahrhunderte später, sah Matt die Zeichen eines Volkes auf der Suche nach sich selbst.
Aber gab es denn überhaupt im 26. Jahrhundert den Begriff »Völker« noch? Es existierten keine Landesgrenzen mehr, nur wenige Millionen Menschen siedelten
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