294 - Der Keller
hinreißen lassen. Das Gesetz war unmissverständlich und kannte keine Ausnahme. Er würde für seine Tat bitter bezahlen müssen. Mördern drohte in Alytus der Galgen. Die öffentliche Hinrichtung und anschließende Zurschaustellung des Leichnams.
Trotzdem dachte er zunächst daran, sich zu stellen. Bis wieder Jurgis' Jammern in sein Bewusstsein drang.
Mit einem Eifer, zu dem er sich gar nicht mehr fähig geglaubt hätte, begann er nach einem Ausweg zu suchen. Er sah sich in der Stube um. Dabei stieß er auf eine Kladde mit einem Einband aus dicker Rindshaut, die auf einem kleinen Tisch neben der Herdstelle lag. Daneben stand ein Tintenfass mit einem Schreibkiel.
Paavel warf einen Blick auf das Geschriebene und entdeckte zu seiner Überraschung die Namen von Alytuser Bürgern. Als er schnell nach vorn blätterte, stach ihm der Name des amtierenden Bürgermeisters ins Auge. Dahinter war eine erkleckliche Summe vermerkt, die dieser der Alten entweder bezahlt hatte oder die sie ihm schuldete.
Kopfschüttelnd klappte Paavel die Kladde zu und schob sie sich hinter den Gürtel. Dann forschte er weiter. Er brauchte ein Versteck, um Olgas Leiche verschwinden zu lassen. Sie aus dem Haus zu tragen wagte er nicht. Ein dummer Zufall genügte, und er würde dabei gesehen werden.
Als er einen abgewetzten Teppich zur Seite schlug, erhellte sich seine verdrossene Miene. Ein umgeklappter und im Holz versenkter Ring kam zum Vorschein. Der Zugang zu einem Keller? Paavel klappte ihn mit spitzen Fingern nach oben und zog daran.
Die Bodenluke öffnete sich. Darunter befand sich eine Treppe mit steinernen Stufen.
Paavel entzündete eine Petroleumlampe, die an einem Nagel parat hing. So ausgestattet stieg er vorsichtig nach unten. Und erlebte die nächste Überraschung.
Diese Heuchlerin. Diese gottverfluchte Heuchlerin!
Er hatte recht daran getan, die Sieche Olga zu erschlagen. Paavel Kolitz fand sich in einer Hexenküche wieder, in der die Sieche Olga dunklen Künsten gefrönt haben musste.
Und hier, inmitten von seltsamen Gerätschaften, kam Paavel zum ersten Mal der Gedanke, dass die Amme etwas mit der absonderlichen Zweigeschlechtlichkeit seines Kindes zu tun haben könnte. Hatte sie am Ende die Mutter verhext und wollte das Kind nach der Geburt an sich bringen? Um was zu tun…?
***
Paavel sah sich in jedem Winkel des geheimen Raumes um. Neben Tiegeln und Mörsern, in denen die Amme offenbar allerlei Pülverchen hergestellt hatte, gab es auch hier Glasgefäße unterschiedlicher Größe. Aber sie waren bis auf jene klare Flüssigkeit leer.
Paavel stellte die Laterne auf einem Arbeitstisch ab und hastete wieder die Treppe hinauf. Nach einer Weile kehrte er mit dem Leichnam der Siechen Olga zurück und wuchtete ihn in einen wannenartigen Behälter, den er mit mehreren herumliegenden Tüchern bedeckte.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Von oben drangen Jurgis' Schreie herab, aber anstatt so schnell wie möglich zu seinem Kind zu eilen, zog Paavel einen Schemel zu der abgestellten Petroleumlampe heran, setzte sich und zog die Kladde hinter dem Gürtel hervor. Er blätterte in den Aufzeichnungen der Amme und fand, als er das Büchlein umdrehte und von der eigentlich falschen Seite aufschlug, dort mehr als nur bloßes Zahlenwerk. Die Sieche Olga hatte hier ein schlichtes und lückenhaftes Tagebuch geführt!
Je mehr sich Paavel in die Aufzeichnungen vertiefte, desto klarer wurde für ihn, dass er eine vielfache Mörderin ihrer gerechten Strafe zugeführt hatte - und ihm dämmerte nun auch, warum die Amme so hohes Ansehen bei Horowitz und seinen Amtsvorgängern genossen hatte. Und nicht nur bei ihnen, sondern auch bei anderen honorigen Mannsbildern der Stadt.
Die Sieche Olga war eine Engelsmacherin. So nannte man in Litaaun und anderswo Frauen ihrer »Reputation«.
Paavel las fassungslos, wie viele unliebsame Kinder die Amme im Laufe der Zeit auf Wunsch der ungewollten Väter lange vor der naturgewollten Niederkunft aus den Schößen von schwangeren Frauen geholt hatte. Die Föten selbst bewahrte sie akribisch in Behältnissen auf, die mit Alkohol gefüllt waren, was die Verwesung verhinderte.
Paavel wurde übel bei dem Gedanken, dass die sieche Alte mit Jurgis genauso verfahren wäre, hätten er und Aljescha ihr das Kind überlassen.
Ihn schauderte so sehr, dass er nicht mehr imstande war, weiterzulesen. Aber er hatte auch genug gesehen.
Bevor er den Keller verließ, suchte er an alkoholischer Flüssigkeit zusammen, was
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