Der Regler
Prolog
Er blickte über die glatte, bleigraue Oberfläche des Sees und sah das Schiff auf sich zukommen, genau mit der Spitze voraus. Die unsichtbare Linie, auf der es sich nun schon minutenlang näherte, stand exakt senkrecht zu der Bank, auf der er saß. Es war ein Mittwoch im Oktober, der erste im Oktober, um genau zu sein, und es war Viertel nach sechs Uhr abends. Außer ihm und der Angestellten der Fährlinie erwartete niemand das Schiff, das
Alpino
hieß und nach genauem Plan jahrein, jahraus auf dem Lago Maggiore kreuzte. Im Sommer waren manchmal so viele Leute an Bord, dass die
Alpino
aus der Ferne wie ein Flüchtlingsboot aussah, schwer stampfend, tief im Wasser liegend. Um diese Jahreszeit wirkte sie dagegen schnell und elegant, man konnte sehen, dass sie weiß war, weiß mit dunkelblauen Streifen an den Seiten und um Türen und Fenster.
An der Anlegestelle befanden sich zwei runde Schilder, wie große weiße Uhren, mit roten Zeigern auf dem Zifferblatt, die von der Fährangestellten bewegt wurden. Das eine Schild zeigte die Ankunftszeit der nächsten Fähre aus Richtung Cannobio an, das andere die Ankunftszeit des Schiffes aus Richtung Luino: fünf nach sechs. Die Sonne war schon hinter den Bergen verschwunden, der See lag im Schatten. Die Spitze der
Alpino
war aus dem Dunst aufgetaucht, der sich über die Wasserfläche gelegt hatte. Die Fähre hatte Verspätung.
In den letzten Tagen war das Wetter umgeschlagen. Der warme Herbst hatte sich in einen Vorboten des Winters verwandelt. Oben in den Bergen fiel schon Schnee, unten floss eiskaltes Wasser in den See. Gabriel Tretjak trug einen schwarzen Kaschmirmantel und einen dunkelgrauen Schal. Er stand auf, ging die paar Schritte auf den Landungssteg zu und blieb neben den beiden runden Schildern stehen, die Hände in den Manteltaschen. Er hatte keine Handschuhe an, das Metall des Revolvers in der rechten Tasche fühlte sich inzwischen warm an.
Es ließ sich in seinem Geschäft oft nicht vermeiden, jemandem zu drohen, und er geriet durchaus in gefährliche Situationen. Aber er arbeitete prinzipiell nicht mit Waffen, niemals. Er besaß nicht einmal eine. Doch das hier war etwas anderes. Vor nichts in seinem Leben hatte er jemals so große Angst empfunden wie vor dem, was in wenigen Augenblicken hier an diesem Anlegesteg seinen Anfang nehmen würde.
Die
Alpino
fuhr einen Bogen und legte seitlich am Steg an. Eine Brücke aus Aluminium wurde ausgelegt, um die Passagiere von Bord zu lassen. Es waren nur drei. Zuerst kam ein großer Mann, der mit der einen Hand einen kleinen Jungen führte und mit der anderen ein gelbes Kinderfahrrad schob. Dann kam sie. Sie war kleiner, als er sie in seiner Vorstellung gespeichert hatte, irgendwie zarter. Der braune Wollmantel, in den sie sich gehüllt hatte, wirkte eine Idee zu groß, und die Mütze machte ihr Gesicht schmal.
Als sie ihn erreicht hatte, stellte sie ihre Reisetasche auf die Holzbohlen, sah ihn an und sagte fast etwas verlegen: »Hast du lange gewartet?«
Er nickte. »Zwanzig Jahre.«
Sie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Er nahm ihre Tasche vom Boden und schlug den Weg in den Ort ein. Sie ging neben ihm her.
»Es gibt nur das eine Hotel hier in deinem Ort«, sagte sie und deutete auf ein cremefarbenes Gebäude vor ihnen. »Wie ist es?«
»Nicht dein Standard«, antwortete er, »aber in Ordnung.«
Als die
Alpino
wieder ablegte, um den See zurück in Richtung Cannobio zu überqueren, hatten sie den Eingang des Hotels erreicht.
Torre Imperial
stand in goldenen Buchstaben an der Glastür. Darunter waren drei Sterne gemalt.
Teil 1 Die Täuschung
Erster Tag
11. Mai
Galle, Sri Lanka, 19.30 Uhr
Gabriel Tretjak saß in einem englischen Clubsessel und beobachtete den Kellner, der ihm einen Gin Tonic brachte. Der Kellner war mit schwarzer Hose, schwarzem Jackett und korrekt geknöpftem weißen Hemd bekleidet. Er war alt, und irgendetwas an diesem Mann, wahrscheinlich die leicht gestauchte, nach oben verschobene Nase und die ausgeprägten Falten um den Mund, erinnerte Tretjak an ein Panzernashorn, das er ein paarmal im Tierpark Hellabrunn gesehen hatte. Der Direktor des Zoos war von einem Pfleger erpresst worden und hatte Tretjak beauftragt, die unangenehme Geschichte zu beenden. Es ging um illegale Medikamente für exotische Tiere. Am Haus des Panzernashorns, wo der Pfleger gerade Dienst tat, hatte Tretjak das erste Mal auf ihn gewartet. Er liebte Rituale, deshalb trafen sie sich auch danach immer wieder
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