294 - Der Keller
Unglücklichen geholt hatte. Sie hielt das strampelnde Neugeborene weit von sich und schien hin und her gerissen zwischen ihren Pflichten als Amme und dem inständigen Wunsch, den Säugling einfach fallen zu lassen.
Als Paavel auf sie zuging und nach dem Kind greifen wollte, brachte Olga es mit einem warnenden Zischen aus seiner Reichweite. »Wir müssen es ersäufen!«, schnappte sie. »Auf der Stelle!«
Ihre Worte rissen offenbar auch Paavels Frau Aljescha aus der Erschöpfung. » Ersäufen? «, krächzte sie mit heiserer Stimme. »Olga, was redest du, um des Allmächtigen willen? Gib mir mein Kind, sofort!«
»Um des Allmächtigen willen - o ja!«, erwiderte die Amme. »Das ist es doch! Ich schütze dieses Haus und diese Stadt, wenn ich…«
Ihre Ausholbewegung ließ keinen Zweifel daran, was sie vorhatte.
Paavel warf sich mit einem Schrei auf sie. Während seine schwieligen Hände nach dem Säugling schnappten, rammte er die Amme mit dem Knie zur Seite. Sie schlug vor ihm zu Boden - aber das hatte sie nicht besser verdient. Paavel war drauf und dran, ihr noch einen Tritt zu verpassen, aber er beherrschte sich.
Schnell ging er zum Bett, von dem aus Aljescha alles verfolgt hatte, und legte ihr das Kind - ihr erstes überhaupt - ganz sacht in die Kerbe zwischen ihren prallen Brüsten. Im selben Moment beruhigten sich Mutter und Kind.
»Sie muss den Verstand verloren haben!«, flüsterte Paavel seiner Frau ins Ohr. »Ich prügele sie aus dem Haus! Hast du gesehen, was sie tun wollte?«
Aljescha nickte verstört. Aber ebenso leise gab sie mit flehender Stimme zurück: »Lass sie. Bitte, lass sie. Sie soll nur gehen…«
Aber das hatte die Sieche Olga ohnehin vor. Grummelnd und brabbelnd kroch sie auf allen vieren zur Tür. Erst dort zog sie sich am Rahmen hoch, drehte sich zu den beiden Eheleuten um und…
Paavel, der wüste Beschimpfungen erwartete, wurde überrascht. Sie warf ihm und Aljescha nur einen unglaublich mitleidigen und zugleich zutiefst besorgten Blick zu. Dann eilte sie aus dem Haus.
Das Paar blieb ratlos mit seinem Nachwuchs zurück.
Alles schien gut zu werden.
Bis auch Aljescha zu schreien begann…
***
Noch während Aljescha schrie, klangen harte Schritte durch das Haus, das in einem dicht bevölkerten Viertel von Alytus stand. Offenbar hatte die Amme beim Gehen die Tür offen gelassen, die Paavel sonst immer gut verriegelt hielt, weil selbst bei Tag die Eiskäfer durch die Gassen krochen und sich durch jede Ritze quetschten. Und Eiskäfer brachten nicht nur sprichwörtliches Unglück, ihre Ausscheidungen konnten tödliche Infektionen verursachen. In Alytus gab es kaum eine Familie, in der die kalte Schwindsucht noch keine Opfer gefordert hatte.
Vertraute Gestalten drängten zu Paavel und Aljescha in die Stube, allen voran der Bürgermeister, Sergee Horowitz. Dicht gefolgt von der Amme, die ihm wie eine Wanze im Pelz saß und unentwegt auf ihn einredete. Die drei anderen Personen erkannte Paavel als die Leibwächter des Bürgermeisters. Sie waren mit Prügeln bewaffnet, deren abgerundete, mit Metallplatten versehene Enden mühelos den Schädel eines Menschen einschlagen konnten. Allerdings wurden sie weniger gegen aufmüpfige Bürger eingesetzt, sondern vielmehr gegen besagte Eiskäfer.
Paavel mochte den Bürgermeister nicht, denn er zog den Leuten nur die mühsam erwirtschafteten Güter aus den Taschen. »Was fällt euch ein?«, fuhr er die ungebetenen Gäste an, während Aljescha nur leichenblass und starr im Bett lag. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass ihre Brüste halb entblößt waren.
Paavel eilte der Gruppe entgegen und verstellte ihr den Weg.
Horowitz nickte einem seiner Männer zu, worauf dieser Paavel beiseite schob und sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihn stellte.
»Ist es das?«, hörte Paavel den Bürgermeister fragen - und die Sieche Olga antwortete: »Ja… ja! Den hat Orguudoo ihnen ins Nest gelegt!«
»Ein Kuckuckskind?«
Paavel drängte an der Leibwache vorbei - beziehungsweise wollte an ihr vorbei, doch sie ließ es nicht zu. Wie ein Schraubstock schloss sich die Pranke des Hünen um seinen Oberarm.
Paavel fluchte und trat um sich, erst recht, als er sah, wie ungeniert sich der Bürgermeister zu Aljescha hinunterbeugte und ihr die Decke mit einem Ruck komplett vom Körper zerrte. Sie trug noch ein weites Leinenhemd, das aber so weit aufgeknöpft war, dass es fast nichts verhüllte.
Paavel schoss endgültig das Blut zu Kopfe. Er trat dem
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