294 - Der Keller
sich wohl herumtreiben mag?«
Paavel zuckte mit den Schultern. »Vielleicht eine Niederkunft in einem Nachbardorf, die sich hinauszögert.«
Horowitz nickte. »Vielleicht.« Er wandte sich zum Gehen.
Paavel wartete, bis er hinter den Häusern verschwunden war. Dann bückte er sich, hob das tote Geschöpf, das wie aus Holz geschnitzt und in Feuer geschwärzt aussah, vom Boden auf und ging damit in den Garten hinter dem Haus.
Wie er es dem Bürgermeister erklärt hatte, hob Paavel neben Aljeschas Grab ein Loch aus und legte das Bündel mit dem toten Kind hinein. Anschließend schaufelte er es wieder zu und fertigte ein namenloses Kreuz, das er in die Erde pflanzte.
Nach einem stummen Gebet kehrte er dann wieder in sein Haus zurück und begann mit ersten Aufräumarbeiten.
Gegen Mittag streckte der Erste seiner Nachbarn den Kopf bei ihm herein. »Brauchst du Hilfe?«, fragte er.
»Danke, nein«, wiegelte Paavel ab. Bis zum Abend hatte er fünfmal bei fünf verschiedenen Männern und Frauen jede Unterstützung abgelehnt. Stets freundlich, aber auch immer mit Nachdruck. Wie schon dem Bürgermeister gegenüber behauptet, wollte er die schwere Arbeit nutzen, um Vergessen zu finden.
Die Leute akzeptierten und respektierten es schließlich.
Und spät in der Nacht kroch Paavel zum ersten Mal ins Versteck seines geliebten Kindes. Es war völlig entkräftet vom Schreien. Aber nichts war aus dem dunklen Kellerraum bis nach oben gedrungen. Nur das zählte.
Paavel fütterte Jurgis und wiegte ihn dann in den Schlaf.
So ging es von nun an Tag für Tag.
Schnell hatte Paavel das Haus wieder hergerichtet. Die Nachbarn pflegten wieder normalen Umgang mit ihm, als wäre nie etwas gewesen. Er selbst machte gute Miene zum bösen Spiel. Niemand merkte ihm an, dass er zwei Leben führte.
Eins bei Tag und eins bei Nacht.
Die Nacht gehörte Jurgis Kolitz, dem Kind, das sowohl Junge als auch Mädchen war.
Paavel wartete jeden Tag darauf, dass Olgas Leichnam entdeckt würde, aber nichts geschah. Er lebte in ständiger Angst und Sorge, verhaftet zu werden, wagte aber lange nicht, noch einmal in das Heim der Hexe zurückzugehen.
Irgendwann aber überwand er seine Furcht. Und zündete das Haus der Amme an. Es brannte bis auf die Grundmauern nieder.
Paavel blieb bei seiner Brandstiftung unentdeckt, und auch Olgas Leichnam in dem Kellergewölbe wurde nie gefunden, so wie auch nicht der Keller selbst. Die Amme hatte keine lebenden Verwandten, und mit der Zeit eroberte die Natur diesen Flecken Erde zurück. Wilde Hunde spielten in den Ruinen.
So vergingen die Jahre. Jurgis wuchs heran, wurde größer und verständiger, und Paavel Kolitz begann zu begreifen, dass er etwas in Gang gesetzt hatte, das irgendwann nicht mehr beherrschbar sein würde. Eines Tages würde sein Lügengebilde in sich zusammenfallen und er würde sich für alles verantworten müssen - auch seinem Kind gegenüber. Denn er würde es nicht ewig wegsperren können.
Dann aber löste sich das Problem für Paavel ganz von selbst. Wenngleich auch nur für ihn…
***
Gegenwart, 2527
Hier bin ich schon einmal gestorben…
Matt war wie elektrisiert. Manchmal war Xij Hamlets Art und Weise, sich auszudrücken, gewöhnungsbedürftig, trotzdem hatte er sich daran gewöhnt. Die - rein biologisch betrachtet - junge Frau war längst fester Bestandteil ihrer Reisegruppe geworden, und die jüngsten Ereignisse hatten sie noch mehr zusammengeschweißt.
Die Lüftung von Xijs folgenreichstem Geheimnis hatte einen Quantensprung in ihrer Beziehung bedeutet. Dass die junge Frau, die vor ihnen stand, auf einen unglaublichen »Fundus« von Leben zurückblicken konnte und schon unzählige Male reinkarniert war, sah man ihr beileibe nicht an. Aber mittlerweile gab es daran nicht mehr den geringsten Zweifel.
Und die jetzige Äußerung rückte genau das schlagartig wieder in den Vordergrund.
»Du warst hier schon mal?«, fragte er und vermied dabei das Wort »gestorben«.
Xij nickte aufgelöst. »Die Einwohner nannten das riesige Häusermeer Tah Ran - aber ja, es handelt sich um Teheran.«
» Wann warst du hier?«, wollte Aruula wissen, während sie an Xij vorbei auf den gewaltigen urbanen Komplex blickte, der unter ihnen vorbeizog.
»Das ist viele Jahrzehnte her.«
»Und wie war damals dein Name?«, fragte Rulfan vom Pilotensitz her.
Xijs Miene verschloss sich.
»Willst du nicht darüber sprechen?«
»Ich glaube, ich brauche noch ein bisschen Zeit - momentan überfluten mich
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